Krisen dieser Welt? - Ich nehme davon eine Auszeit

Waren die letzten Jahrzehnte durchweg mit beruhigenden, friedlichen und ausgeglichenen Begebenheiten ausgefüllt, wie z. B. der Zusammenschluss von weiten Teilen Europas, die Wiedervereinigung Deutschlands und das Abtauen des Kalten Krieges gekennzeichnet, so kam mit dem 11. September 2001 eine gewisse Wende in diese scheinbar heile Welt. Mit der zunehmenden Aggressivität Russlands, der Bankenkrise, der Flüchtlingskrise schoben sich bereits dunklere Wolken in unser Dasein. Im Moment sind wir irgendwie direkter betroffen und in Unruhen und Neuordnungen der Welt verwickelt wie lange davor nicht mehr: Klimawandel, Energiepreisschock, Verkehrswende, Inflation, die Notwendigkeit erneuerbarer Energien, der große Riss zwischen arm und reich, Jung und Alt und nicht zuletzt der Ukrainekrieg und der Überfall der Hamas auf Israel mit der Konsequenz eines Nah-Ost-Krieges. Darüber hinaus bereitet uns unser Bundeskanzler auf harte Zeiten oder gar Ausnahmezeiten vor, nicht zuletzt sprach er von einer Zeitenwende, die nichts Gutes zu verheißen scheint. Alles  Vorgänge, die uns ein „Unbehagen in der Kultur“[1] bescheren können. Wir leben in bewegten Zeiten, ständige Entwicklungen, Fort- und Rückschritte begleiten uns und das einzig Beständige im Leben scheint die Unbeständigkeit zu sein. Die Flucht in Drogen oder gar in den Selbstmord herrscht allgegenwärtig, Psychisch labile Mensch "drehen durch" und schießen oder stechen um sich. Wir fühlen uns in unserem Menschsein bedroht oder anders gesagt, die Möglichkeit des Menschseins kann zerstört werden, was besonders in Entwicklungsländern, in denen Hunger, Krankheit und früher Tod drohen vorkommt; es ist aber auch der Fall in totalitären Staaten, wo Polizei, Gewalt, Gefängnis zu den Alltagsbedrohungen gehören. Ein anderer Punkt ist die Wissenschaft, die das vermeintliche Glück der Menschen mit manipulierten Konsumbedürfnissen plant; Maschinen übernehmen die Arbeit und die Leute schauen ihnen dabei zu wie einst die Menschen im Altertum den epikureischen Göttern zuschauten, die auf Wolken sitzend und lächelnd auf die sorgenbeladene Menschheit herabblickten.[2]

Gibt es denn nichts mehr, was uns im Fluss der Zeit und der Ereignisse Halt geben kann? Sind wir denn großenteils therapiebedürftig geworden? Oder gibt es vielmehr Gegenmaßnahmen, die sich allein aus dem Menschsein ergeben? Was kann man also gegen die unangenehmen Einflüsse von außen unternehmen? Eine vorläufige Kurzantwort kann nur heißen, nolens volens müssen wir uns eine gewisse Notfall-Bewältigungskompetenz aneignen bzw. verinnerlichen. Dazu werden wir zuerst ein Konzept von „Gelassenheit“ verfolgen, um uns danach mit dem Katastrophenmodus zu befassen, mit dem Motto: „Was wäre, wenn…“ und schließlich müssen wir, nachdem diese Möglichkeiten ausgelotet haben, schauen, was wir mit den „frei gewordenen Raum“ anfangen können. Selbstverständlich kann man diese Dinge nur durch Einübung erlernen, um schließlich und bestenfalls das "intensive Leben" erreichen zu können. So könnte man den fälschlich Karl Valentins zugeschriebenen Spruch abwandeln und sagen: „Leben ist schön, macht aber viel Arbeit.“ [3]

Im Kontext des vorher Gesagten, könnten sehr schnell die Bergriffe „Selbstverwirklichung“, „Selbstfindung“ und „Lebenssinn“ fallen. Ich kann dazu nur anmerken, dass mir diese Begriffe zu „groß“, zu voluminös sind. Was heißt hier „Verwirklichung“ und „Findung“. Was ist, wenn ich verwirklicht bin? Ist die Welt dann im Stillstand? Bin ich am Ende angelangt, entwickle ich mich nicht mehr weiter? Was ist, wenn ich mich gefunden habe? Auch hier sehen wir schon, wohin das führt. Sehen wir weiter, was wir mit dem Freiraum meinen könnten.

Ein neues, altes Zauberwort und Konzept scheint „Resilienz“ zu sein. Der Begriff bildete sich in den 1950er Jahren innerhalb der Psychologie und ist plötzlich in Aller Munde der Gesellschaft, so wie auch schon der Spuk der „Achtsamkeit“. Ich möchte hier nur auf den ersten Begriff näher eingehen. Er stammt vom lateinischen „resiliere“, also „abprallen“, „zurückspringen“. Unter Resilienz ist die Fähigkeit gemeint, an Widerständen nicht zu zerbrechen, sondern sich als widerstandsfähig zu erweisen. Diese Eigenschaft trifft auf Materialien zu, die, wenn großer Druck auf sie ausgeübt wird, nicht zerbrechen oder einen Sprung bekommen. Ein Material ist dann resilient, wenn es elastisch, federnd und nachgiebig ist wie zum Beispiel der Bambus. Das Prinzip wird in der Psychologie auf Menschen angewendet. Resiliente Menschen „zerbrechen“ nicht, sie lassen sich auf keinen Fall unterkriegen und sie haben eine gewisse Widerstandsfähigkeit, wenn sie sich in dramatischen Situationen befinden, wenn sie Krisen auszuhalten oder Schocks zu verkraften haben. Das gelingt ihnen, weil sie auf persönliche und soziale vermittelte Kraftquellen zurückgreifen können. Resilienz kann zu einem großen Teil erworben werden. Selbstverständlich gibt es auch Menschen, die von sich aus robuster und widerstandsfähiger sind. Das kann durchaus „ererbt“ sein, aber zum ganz großen Prozentsatz lässt sich Resilienz erlernen. Sie ist ein lebenslanger Prozess, keine statische Eigenschaft, kein Zustand, sondern ein Entwicklungsergebnis.[4]

Ratgeberbücher überschlagen sich mit angeblich adäquaten Resilienzmodellen, die ein Philosoph durchaus kritisch anschauen muss. Daher schlage ich vor, diesen Begriff gar nicht so groß zu verfolgen. Ich persönlich bevorzuge den Begriff Lebensgestaltung, der das Phänomen Widerstandskraft mit einschließt. Ich lade hiermit dazu ein, diesen Weg mitzugehen. Um es aber schon vorweg zu nehmen: Jeder Mensch ist anders und die Philosophie spricht immer vom Allgemeinen. Daraus ergeben sich natürlich keine konkreten Urteile über das, was der einzelne Mensch braucht, um Härten, die sein Leben erschüttern, zu meistern. Umgekehrt, muss man sehen, was aus einem philosophischen Angebot für einem selbst passend ist. Es gibt nicht das Rezept, um aus den Wirren der Welt einigermaßen unbeschadet heraus zu kommen.

Wir werden im Folgenden die Philosophiegeschichte zu befragen haben, was den Menschen stählen kann. Wie er sich selbst wie einst Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf der äußeren Widerfahrnisse befreien kann. Nochmals sei gesagt, dass die Philosophie nur Vorschläge und Angebote machen kann. Der reflektierende Leser muss selbst entscheiden, was für ihn wichtig und richtig ist. Sicher, diese Entscheidung ist nicht immer leicht zu fällen, es gehört auch Mut dazu, einen bestimmten Weg zu gehen, auch wenn man nicht immer die Folgen, die er mit sich bringt, voraus zu sehen imstande ist. Dies hatte bereits Aristoteles bemerkt und gesagt, man müsse beginnen, auch wenn man nicht den ganzen Horizont überschauen kann. Aber diese Überlegungen gehören in einen anderen Zusammenhang, der hier nicht zu klären ist.

Zurück zur Widerstandskraft (Resilienz) wie sie in der Philosophie schon vor über zweitausend Jahren vertreten wird. Besonders in der Stoa [5] liegt die Wurzel derselben, der wir uns jetzt zuwenden werden.

 

Worüber wir gebieten und worüber wir nicht gebieten. Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über unsern Körper, unsern Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort, über alles, was nicht von uns ausgeht...[6]

 

Im Prinzip hat Epiktet hier das Grundrezept zur „Seelenruhe“ (ataraxia) genannt. Diese Seelenruhe bezeichnet gleichermaßen die teilnahmslose Hinnahme der äußeren Dinge wie auch die Gelassenheit gegenüber Schicksalsschlägen. Wenn unsere Einflussnahme nicht möglich ist, so geht es uns nichts an und wir können es auch nicht ändern. Sorgfältig trennt er den Bereich, den wir beherrschen und dem, was von außen kommt. Vielleicht bleibt dann nur noch die Frage, ob wir uns deswegen verrückt machen sollen, weil wir nur verzweifelt zusehen können, wenn etwas passiert, das wir nicht beeinflussen können.

 

Zerren dich die von außen kommenden Ereignisse hin und her? Nimm dir doch einmal die Zeit, etwas wirklich Gutes hinzuzulernen und hör auf, im Kreise herumzuirren! Du mußt dich aber auch vor dem anderen Irrwege hüten: Toren [Dummköpfe; Anm. M. K.] sind nämlich auch die, die durch ihr Tun müde geworden sind zum Leben und kein Ziel haben, auf das sie jeden Anlauf, überhaupt jeden Gedanken richten.[7]

 

Marc Aurel geht hier schon ein Stück weiter als Epiktet und konzentriert sich auf Ziele die ich mir gesteckt habe oder stecken will. Um nicht davon abzukommen, setzt bestenfalls ein Lernprozess ein, damit man das Ziel nicht aus den Augen verliert, sondern es vielmehr fokussiert. Ein Irrweg ist es, das Ziel zu verlieren und antriebslos zu driften. Sind die äußeren Einflüsse ungünstig, so kann ein Ziel ein Leuchtturm sein zu dem man hinstrebt und der hilft, uns in der Spur zu halten. Wir haben hier bereits schon einige Hinweise zu einer Lebenszufriedenheit[8] bekommen.

Ein bedeutender Begriff ist schon gefallen: Gelassenheit – ist sie im Kontext der Krisen in der Welt und der damit einher ziehenden Einflüsse auf uns ein gewisses Hilfsmittel? Bevor das beantwortet werden kann, werden wir zuerst in medias res gehen müssen und sehen, was es mit diesem Terminus auf sich hat. Wir werden dazu vom Alltagsbegriff ausgehen und sehen in wie weit er zur Lebensgestaltung beitragen kann.

Gelassenheit als Wort hat keine Entsprechung in der griechischen oder lateinischen Sprache. [9] Der Begriff als Abstraktion „Gelassenheit“ ist wohl im Mittelalter von Meister Eckhart geschaffen worden.[10] Im Alltagsverständnis benutzen wir „Gelassen“ als Attribut einer bestimmten Verhaltensweise, wenn wir sagen: „Bei diesen extremen Unwetter blieb er völlig gelassen“, aber auch in einer bestimmten Gefühlslage mit besonderer innerer Ruhe: „Heute fühle ich mich ganz gelassen.“ Ein Mensch kann auch gelassen genannt werden, wenn er sich gegenüber dem Leben im Ganzen gelassen verhält und nicht unbedingt an etwas Bestimmtem unverrückbar festhält. Auf jede gegebene Situation lässt er sich vorbehaltlos ein und behält in schwierigen Lagen die „innere Ruhe“. Auffällig ist hierbei, dass die Gelassenheit nicht an ein bestimmtes äußeres Verhalten oder ein bestimmtes Gefühl gebunden ist. Um ein gelassener Mensch zu sein, muss jemand nicht unbedingt äußerlich oder gefühlsmäßig besonders ruhig sein. Es handelt sich hierbei „um eine inhaltlich nicht spezifizierte Form des gesamten Verhaltens, die je nach Situation ihren charakteristischen Ausdruck finden kann.“[11] In der mittelalterlichen Mystik findet sich bereits dieses formale Verständnis.[12] So schreibt Heinrich Seuse: ,,Er [der gelassene Mensch] lebt im gegenwärtigen Augenblick, ohne an einem Vorhaben zu hängen…“ [13] Andere Menschen liebt er, ohne an ihnen zu hängen. ,,Er fühlt mit ihnen, jedoch nicht in Sorge, sondern in rechter Freiheit.“ [14] Seuses Stellungnahme folgt an dieser Stelle dem formalen Sinn der Gelassenheit, ohne ein inhaltliches Verhalten a priori zu implizieren.

Über die bisherige Darstellung der Gelassenheit hinaus, kann ein negativer und ein positiver Bedeutungsaspekt der Gelassenheit unterschieden werden. So ist jemand gelassen, wenn er innere Unabhängigkeit und Freiheit beweist, weil er nicht unbedingt etwas haben, erreichen oder realisieren will, er ist, wo immer dies nötig ist, in der Lage loszulassen. Dieser negative Sinn der Gelassenheit ist die Bedingung für den positiven Sinn der Gelassenheit, indem jemand innere wie auch äußere Widerfahrnisse zulässt, hinnimmt und akzeptiert, wie sich auch auf jede gegebene Situation, Erfahrung oder menschliche Beziehung aktiv, affektiv und wahrnehmend, als auch denkend und urteilend einlassen kann. Wo beide Aspekte kohärent sind und sich wechselseitig voraussetzen, kann die Rede von Gelassenheit zutreffend sein. Nimmt man nur die positive Perspektive, so bleibt man in den Dingen verhaftet und ist von ihnen abhängig, lebt also gerade das genaue Gegenteil von Gelassenheit. Somit hat nur der Aktive, der etwas tun und erreichen will, Anlass, gelassen zu sein, wer gänzlich passiv bleiben will, wen nichts etwas angeht, wer keinerlei Intentionen hat und nichts anstrebt, wer gleichgültig oder teilnahmslos ist, der kann nicht als gelassen bezeichnet werden.[15] Gelassenheit ist also gleichzeitig ein Wollen und Nicht-Wollen, ein Tun und ein Nicht-Tun, ein ergreifen und ein Vermeiden. Dies liegt daran, dass die Gelassenheit selbst nicht im Bereich der Unterscheidung von Aktivität und Passivität liegt, daher gehört sie auch nicht in den Bereich des Willens.[16] Dem entsprechend kurz gesagt, ist nicht der gelassen der nicht tut und nichts zu tun hat. Wer so Ruhe und Gelassenheit gelernt hat, der wird auch im Umgang mit anderen meistens gelassen und ruhig bleiben. Ferner können wir uns ein Beispiel an anderen nehmen, die ohne Kummer und einer gewissen Heiterkeit in das Unabwendbare fügen. Anstatt sich immer nur am „Über“ auszurichten, ist es gut, auch das Gute, über das man verfügt, zu beachten. Und Plutarch vermutet weiter, dass man am Guten flüchtig vorbei eilt und umso mehr dem Unangenehmen und Widerlichen entgegen zu gehen.[17]

Obwohl es den Begriff Gelassenheit in der Antike – wie bereits ausgeführt – nicht gibt, möchte ich dennoch eine Adäquation in dieser philosophiegeschichtlichen Epoche wagen. Das Verhalten im Sinne der Gelassenheit wird in erster Linie vom Hellenismus überliefert, indem Epikureer und Stoiker vom „Freisein von Unruhe“ (ataraxía) sprachen. Ein Freisein von Verwirrung, Aufregung, Lärm, Getöse, Furcht und Schrecken, also ein formales Charakteristikum einer Einstellung zu sich selbst und zu den eigenen Wünschen, Neigungen und Affekten in der Korrespondenz mit der äußeren Welt mit ihren Inhalten und Gegenständen, auf die sie sich intentional beziehen.[18] Erreicht wird die Ataraxie durch eine Festigkeit der Seele mit dem Ziel, „mit gleicher Seele“ (aequo anima) schwierigste Situationen auszuhalten und die „Gleichmütigkeit“ (aequanimaitas) erreichen zu können. Das kann Unleidenschaftlichkeit bedeuten, d. h. nicht von Leidenschaften und ihren willkürlichen Bewegungen abhängig zu sein, was nicht automatisch bedeutet, leidenschaftslos zu sein. Diese Gleichmütigkeit ist konträr zum unschlüssigen Hin und Her der Seele. Dennoch kann Widersprüchliches in der Seele nebeneinander existieren, wobei entscheidend ist, ob es möglich ist, diese Widersprüchlichkeit so auszubalancieren, dass ein inneres Gleichgewicht erhalten bleibt. Durch diese antike Kennzeichnung der Gelassenheit, ist es möglich, sie als einen wichtigen Bestandteil der Selbstgestaltung in der Moderne zu integrieren. Dabei zeigt sich das eigentlich freie Subjekt als ein in sich ruhendes, ausgeglichenes Selbst, denn es ist besser in der Lage, sich nicht der Macht Anderer oder anderer, von außen wirkenden Verhältnissen auszuliefern, sondern „über sich selbst unbedingte Gewalt zu haben“ [19] Durch diese gesteigerte Selbstaneignung und Mächtigkeit über sich selbst, ist es möglich, Widerstrebendes, Übles, Schmerzliches und selbst das Widerliche in Gelassenheit hin zu nehmen, gleichsam aber auch das Angenehme und Lustvolle, jedoch ohne sich daran zu binden, sodass es ohne Mühe wieder losgelassen werden kann. Die gelassene Haltung stellt sich schließlich auch auf die Hinnahme auf das, was veränderlich und wandelbar ist. Man soll sich für diese Veränderlichkeit offenhalten, was der Festigkeit der Seele bedarf, die so dem überraschendsten Wandel ruhig entgegen gehen kann. Bei all diesen Aspekten von Gelassenheit, darf nicht vergessen werden, dass sie eine Ruhe bedeutet, sich vor dem unvorhergesehenen zu verschließen, was für Unruhe und Veränderungen sorgen könnte; darüber hinaus ist sie zur Offenheit für das unvorhersehbare disponiert und hat Möglichkeiten, den unterschiedlichsten Situationen gerecht zu werden. Während des Lebens wächst Sie mit dem Reichtum an Erfahrungen, welche der Mensch sich im Umgang mit sich selbst und der Welt annimmt, wodurch er mit inneren und äußeren Verhältnissen umzugehen weiß. Es fällt dem Menschen leichter, zu verzichten und zu verlieren, weil er davon nicht berührt wird, er bleibt gelassen eigenes Scheitern zu ertragen – es wird zu einem Bestandteil seiner Selbstgestaltung. Die Kunst der Ataraxie kann gleichsam darin bestehen, „Wünsche, vor allem ausschweifende Wünsche, nicht etwa erfüllt sehen zu wollen und ihrer Erfüllung nachzujagen, sondern diese ausschweifenden Wünsche zu vergessen.“[20] Die Ansprüche, die nicht erfüllt werden können, sollen vergessen werden. Sicherlich etwas schmerzhaft, aber einen Weg heraus aus der Unruhe und der Unlust, die die ausschweifenden Wünsche hervorbringen können. Sie führen nur zu einer unnützen Unruhe. Der Witz besteht darin, die Ziele bzw. Wunschinhalte zu entwerten. „So entsteht aus diesem Entsagen die komplizierteste Form des Neids, der theoretische Neid. Ich schwärze am besten das Strahlende, damit es mich nicht so deprimiert. So gab es in dieser Zeit den Vorschlag, ein Festmahl bereiten zu lassen, um es später den Sklaven und Bediensteten zu überlassen.

Gleichsam kann es passieren, dass der Weise folgenden Irrtum unterliegt: Er möchte in völliger Seelenruhe die Ereignisse, auf die er keine Macht hat, über sich hinweg ziehen lassen, indem er sich diesen Ereignissen zu entziehen sucht, sei es durch ein Wegducken oder so etwas wie ein „Kopf-in-Sand-stecken“. Allerdings treffen ihn die Schicksalsschläge umso härter, weil er unvorbereitet ist und nichts dagegen unternimmt. Die kleine behütete Privatwelt stürzt somit über ihm zusammen. Der Mensch braucht daher Antriebskraft und gleichzeitig Gelassenheit, um Dingen in seiner Umwelt begegnen zu können, z. B. Missstände anzuprangern und zu beseitigen. Der Weise wird seinen Willen dahingehend steuern, dass eine Angleichung des Willens an die Güter entsteht, die ihn im größten Maße die Ruhe, Gelassenheit und die Weisheit ermöglichen.[21]

Die Selbstmächtigkeit gründet tiefer und resultiert aus dem ruhenden Kern der Kohärenz des Selbst, welcher nicht ängstlich und eifersüchtig bewacht werden muss. Zu dieser Art Gelassenheit gehört – das hat sie der Ironie gleich – der Blick von Außen auf die Dinge und Verhältnisse, um ihre Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit leichter zu erkennen und ruhiger auf sie zu reagieren. Dadurch bewahrt sie „die Distanz zur Unmittelbarkeit der Eindrücke, und seien sie noch so überwältigend, faszinierend oder deprimierend.“[22] Dies ist eine Haltung der Geduld und keineswegs der Gleichgültigkeit oder Nachlässigkeit. Mit Geduld ist hier ein langer Atem bzw. ein warten können, bis etwas soweit ist, also die Fähigkeit, sich selbst, Anderen und den Dingen Zeit zu lassen, bis der richtige Zeitpunkt eingetreten ist und sich eine günstige Gelegenheit von selbst ergibt. Dafür gilt es sich bereitzuhalten.[23]

Nach der Eroberung des Freiraums durch Gelassenheit ergibt sich ein erster Bereich, den es zu Füllen gilt. Die folgende Frage ist jetzt, wie schafft man es, in einer Krisensituation angemessen und zufrieden weiter zu leben? Gibt es ein richtiges Leben im falschen[24]?

Dazu sagt wiederum Marc Aurel: „Sieh auf dein Inneres! Denn da ist die Quelle des Guten, die stets wieder aufsprudeln kann, wenn du stets wieder nachgräbst.“ Und weiter:

 

Es muß auch der Körper fest sein und nicht verzerrt werden, weder in der Bewegung noch in ruhender Lage. Denn eine ähnliche Wirkung, wie sie der Geist auf das Antlitz ausübt – indem er stets einen verständigen und anständigen Gesichtsausdruck wahrt – muß man auch für den ganzen Körper fordern. Nur muß dies alles ohne bewußte Absicht geschehen. [25]

 

Für ein zufriedenes Leben zählt nicht nur die Geisteshaltung sondern auch Haltung seitens des Körpers. Das ganze wird so eingeübt, dass man es nicht mehr explizit merkt und es zu einem Habitus wird. In Sachen körperliche Übungen hat die Antike ein großes Repertoire, was hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden kann. Die antiken Autoren raten auch dazu, Katastrophen und Unglücksfälle, wie etwa Krankheit und Tod als Einschläge im Leben zu nehmen, die sich dann nicht oder nicht schnell ändern lassen können. Das Schicksal quasi einzukalkulieren, um nicht unverhofft mit dem Schrecken konfrontiert zu sein. Eine gute Technik, die sich auch auf unsere momentane Weltlage anwenden lässt. „Was wäre, wenn heute, von jetzt auf gleich, Das und Das passieren würde?“ Wie kann man sich verhalten, was kann man einüben, um der Situation etwas entgegen setzen zu können und besonnen zu reagieren? Ein berühmtes Essai von Michel de Montaigne (1533-1592) befasst sich mit dem Tod. Es trägt den Titel Philosophieren heißt sterben lernen. Ich möchte daraus einige stellen zitieren mit dem Ziel, das vorher bereits angedeutete, aufzuzeigen:

 

Das Ziel unseres Lebenslaufes ist der Tod; zwangsweise richten wir unseren Blick auf ihn: wenn er uns erschreckt, wie können wir da einen Schritt ohne Schaudern gehen? Was tut der gemeine Mann dagegen? er denkt nicht daran; aber welch tierischer Stumpfsinn gehört dazu, einer so groben Verblendung zu erliegen! […] Wenn der Tod wäre wie ein Feind, dem man ausweichen kann, würde ich geradezu empfehlen, die Feigheit als Waffe zu benutzen: aber da das nun eben nicht angeht, und er dich ebenso trifft, wenn du ihm feige zu entfliehen suchst wie wenn du ihm männlich entgegentrittst, »Er holt den Fliehenden ein und schont auch die nicht, die zum Kriegsdienst noch zu jung sind oder die der Gefahr den Rücken kehren« [26], und da auch die stärkste Sicherung uns nicht vor ihm schützen kann, ..., wollen wir lieber lernen, wie wir ihm entgegentreten und mit ihm fertigwerden können: zunächst, wenn wir ihn um den Hauptvorteil, den er uns gegenüber hat, bringen wollen, müssen wir gerade den umgekehrten Weg einschlagen, als es gewöhnlich geschieht; wir müssen versuchen, ihm seine furchtbare Fremdartigkeit zu nehmen, mit Geschick an ihn heranzukommen, uns an ihn zu gewöhnen, nichts anderes so oft wie den Tod im Kopf zu haben, ihn uns in unserer Phantasie immer wieder in den verschiedensten Erscheinungsformen auszumalen; wenn ein Pferd stolpert, wenn ein Ziegel vom Dach fällt, wenn ich mich irgendwie steche, immer wieder sage ich mir dann. »So, und wenn das nun der Tod selber wäre!« Darauf können wir mit trotziger, mit männlicher Haltung reagieren. Im lauten Jubel und in der stillen Freude, immer können wir einen Ton hören, der uns mahnt, was der Mensch ist; wenn wir noch so sehr genießen, immer einmal sollten wir dann doch daran denken, wie diese Fröhlichkeit rings vom Tod bedroht ist, wie leicht er da hineingreifen kann. So dachten die alten Ägypter: beim Fest, wenn es am höchsten herging, ließen sie ein Menschengerippe in den Saal tragen, als Mahnung für die Gäste. »Denke, daß jeder Tag der letzte sein kann, der dir leuchtet; die Stunden, mit denen du nicht fest gerechnet hast, werden dir dann besonders lieb sein.«[27] Wo der Tod auf uns wartet, ist unbestimmt; wir wollen überall auf ihn gefaßt sein. Sich in Gedanken auf den Tod einrichten, heißt sich auf die Freiheit einrichten; wer zu sterben gelernt hat, den drückt kein Dienst mehr: nichts mehr ist schlimm im Leben für denjenigen, dem die Erkenntnis aufgegangen ist, daß es kein Unglück ist, nicht mehr zu leben. Sterbenkönnen befreit uns von aller Knechtschaft, von allem Zwang. […] Wir sollten, soweit das von uns abhängt, immer fertig und marschbereit sein; vor allem sollten wir es so einrichten, daß wir es dann nur mit uns zu tun haben; der Schritt, der uns bevorsteht, ist schwer genug, wir sollten uns nicht zusätzlich belasten. Da klagt zum Beispiel einer, mehr als über das Sterben selbst, darüber, daß er um einen schönen Sieg gebracht würde, ein anderer, daß er Abschied nehmen muß, ehe er seine Tochter verheiratet oder die Erziehung seiner Kinder abgeschlossen hat; der eine trauert, daß er mit seiner Frau, der andere, daß er mit seinem Sohn nicht mehr zusammen sein kann, was für ihn den wesentlichen Lebensinhalt gebildet hatte. Ich sehe, Gott sei Dank, meiner Todesstunde so gefaßt entgegen, daß ich gehen kann, wenn es ihm gefällt, ohne daß mir der Abschied von irgend etwas schwer würde. Ich löse allmählich alle Bindungen. Von allen kann ich leicht Abschied nehmen außer von mir. Niemals hat sich wohl jemand so absolut und so vollständig darauf eingestellt, daß er der Welt Lebewohl sagen muß, wie ich und sich so allseitig von ihr gelöst. Der Tod ist am selbstverständlichsten, wenn man schon vorher möglichst tot ist. […] Wir sind zum Schaffen geboren: »Der Tod soll mich mitten in der Arbeit holen.«[28] Ich bejahe jede Tätigkeit, man soll die Lebensarbeit so lange fortsetzen wie man kann; ich habe nichts dagegen, daß der Tod mich bei der Gartenarbeit überrascht, aber er soll mich nicht schrecken; und noch weniger soll es mich traurig machen, daß ich mit dem Garten nicht fertig geworden bin. […] Eine dauernde Veränderung und ein allmähliches Absinken unserer Lebenskraft bleibt niemandem erspart; die Natur hat es aber so eingerichtet, daß wir nicht sehen, was wir verloren haben und wie es mit uns abwärts geht. Das wollen wir uns einmal vor Augen führen. Was bleibt einem Greis von der Kraft seiner Jugend, seines Lebens? »Ach, wie klein ist der Rest des Lebens, der den Alten geblieben ist!« [29]13 ... Wenn wir auf einmal so tief herunterstürzten, so würden wir, glaube ich, nicht imstande sein, einen solchen Wechsel zu ertragen. Aber die Natur rollt uns auf einer Bahn, die sich langsam und kaum merklich senkt, allmählich, stufenweise hinab in das Elend des Alters, so daß wir es hinnehmen und keinen Stoß fühlen, wenn die Jugend in uns stirbt; und doch ist dies eigentlich und in Wahrheit ein härterer Tod als das endgültige Erlöschen eines matten Lebens und als das Sterben aus Altersschwäche. Ist doch der Sprung vom Elend ins Nichtsein nicht so hart wie der von der blühenden Jugendkraft in ein schmerzensreiches, kümmerliches Altern. […] Es ist ja auch Torheit, wenn wir unter diesem Druck leiden aus Angst vor dem Augenblick, der uns von jedem Druck befreien wird. Wie alle Dinge für uns aufwachten, als wir geboren wurden, so wird alles für uns sterben, wenn wir sterben. Deshalb ist es gleich sinnlos, zu weinen, weil wir in hundert Jahren nicht mehr leben werden, wie darüber zu weinen, daß wir vor hundert Jahren noch nicht am Leben waren. Mit dem Tod beginnt eine ganz andere Existenz; auch in das Erdenleben sind wir mit Tränen und Schmerzen eingegangen; auch bei diesem Neubeginn mußten wir den Schleier des Geheimnisses ablegen, der uns vorher unsere Zukunft verhüllte. Alles Einmalige ist nicht schwer zu ertragen. Ist es vernünftig, so lange sich vor etwas zu fürchten, was so kurz dauert? Lange Zeit leben und kurze Zeit leben, durch den Tod wird das alles gleich gemacht. Denn die Begriffe lang und kurz haben keinen Sinn, bezogen auf Dinge, die nicht mehr sind. […] Die Natur zwingt uns zu dieser Haltung. Sie spricht zu uns: »Wie du in die Welt gekommen bist, so mußt du wieder aus ihr fort. Der Übergang vom Tode zum Leben, der dir kein Leiden und keine Schrecken gebracht hat, den brauchst du nur zu wiederholen, als Übergang vom Leben zum Tod. Dein Tod gliedert sich in die Weltordnung ein; es ist ein Stück Leben dieser Welt. ... Dies euer Leben, dessen ihr euch erfreut, ist in gleiche Teile geteilt, es gehört ebenso dem Tode wie dem Leben. Schon am ersten Tag nach eurer Geburt beginnt die Wanderung auf das Sterben wie auf das Leben zu.« »Schon bei der Geburt beginnt der Tod: und das Ende ist mit dem Anfang unlösbar verbunden.« [30] Jeder gelebte Moment wird dem Gesamtleben gestohlen; von ihm wird er abgezogen. Euer ganzes Leben lang baut ihr am Tode. Ihr seid schon im Tode, wenn ihr lebt; denn wenn ihr nicht mehr lebt, seid ihr jenseits des Todes, oder, wenn das besser klingt, seid ihr tot jenseits des Lebens; aber während der ganzen Lebenszeit seid ihr schon beim Sterben; und der Tod trifft den Sterbenden viel härter als den Toten; für ihn ist er fühlbarer und wirklicher. Wenn ihr das Leben genutzt habt, könnt ihr gesättigt und befriedigt scheiden. Und wenn ihr nichts damit habt anfangen können, wenn ihr es nutzlos vertan habt, da kann es euch doch erst recht gleichgültig sein, wenn es weg ist; was wollt ihr denn noch damit? An sich ist das Leben nichts Gutes und nichts Böses; es ist der Hintergrund, auf dem ihr selbst Gutes und Böses anbringen könnt. Und wenn ihr einen Tag gelebt habt, habt ihr alles gesehen, was zu sehen ist: ein Tag ist wie alle anderen Tage. Das Licht und die Nacht sind immer die gleichen, es gibt keine anderen: unsere Sonne, unser Mond, unsere Sterne, unser Weltgebäude, es ist alles das gleiche, an dem sich eure Vorfahren erfreut haben und das auch eure Urenkel wieder erfreuen wird. Höchstens in einem Jahre läuft alles ab, was die Akte meiner Komödie an Abwechslungen und Verschiedenheiten aufweisen; wenn ihr aufmerksam zugesehen habt, wie meine vier Jahreszeiten vorüberziehn, so habt ihr erkennen können, daß darin Kindesalter, Jünglingsalter, Mannesalter und Greisenalter der Welt dargestellt sind. Das Spiel der Welt ist damit aus; es fällt ihr keine andre Idee ein, als es noch einmal ablaufen zu lassen; es bleibt immer das gleiche. […] Beim Tode, wann er auch eintritt, ist euer ganzes Leben zu Ende. Man kann den Wert eines Lebens nicht nach der Länge messen; er ist vom Inhalt abhängig. Manches lange Leben ist inhaltlos. Nutzt es, solange ihr es in den Händen habt: von eurem Entschluß, nicht von der Lebensdauer hingt es ab, ob ihr euch mit dem Gedanken abfindet. wir haben genug gelebt. Ihr konntet doch nicht erwarten, daß ihr das Ziel, auf das ihr immer zugingt, nie erreichen würdet? [ ... ] Chiron lehnte die Unsterblichkeit ab; sein Vater Saturn, der Gott der Zeit und der Dauer selbst, hatte ihn darüber aufgeklärt, wie es um sie stehe. In der Tat, du brauchst dir nur zu überlegen, wieviel härter und unerträglicher ein Leben, das nie ein Ende nähme, für die Menschen sein müßte, als das Leben ist, das ich ihnen gegeben habe. Hättet ihr den Tod nicht, so würdet ihr mich dauernd verfluchen, daß ich ihn euch vorenthalten hätte. Ich habe dem Tod absichtlich einen etwas bitteren Geschmack gegeben, damit ihr nicht zu gierig und 6 unbesonnen nach ihm greift, wenn ihr seht, wie einfach durch ihn alles erledigt wird.[31]

 

Montaigne behandelt in diesem Essai vorrangig das Thema des Todes, aber lässt es sich auch auf andere Schicksalsschläge anwenden? Anhand des kurzen Auszuges des Textes lässt sich das schwer sagen. Dennoch halte ich es für möglich. Mit Schicksalsschlägen muss man sich immer auseinander setzen und sie sogar oftmals akzeptieren oder sich mit ihnen arrangieren. Es kann natürlich bei aller gefühlten Tristesse auch dazu kommen, dass man ein Leben nicht mehr lebenswert findet. Leere, Einsamkeit, das Gefühl nicht oder nicht mehr verstanden zu werden, auf dem Gipfel der Verzweiflung sein – und ich will gar nicht von pathologischen Fällen reden – können zu einem Suizid führen. Immanuel Kant hat sich mit dem Thema in moralischer Hinsicht beschäftigt und die Selbsttötung völlig ausgeschlossen:

 

1) Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Überdruss am Leben empfindet, ist noch so weit im Besitze seiner Vernunft, dass er sich selbst fragen kann, ob es auch nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu nehmen. Nun versucht er: ob die Maxime seiner Handlung wohl ein allgemeines Naturgesetz werden könne. Seine Maxime aber ist: ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen. Es frägt sich nur noch, ob dieses Prinzip der Selbstliebe ein allgemeines Naturgesetz werden könne. Da sieht man aber bald, dass eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch dieselbe Empfindung, deren Bestimmung es ist, zur Beförderung des Lebens anzutreiben, das Leben selbst zu zerstören, ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen würde, mithin jene Maxime unmöglich als allgemeines Naturgesetz stattfinden könne und folglich dem obersten Prinzip aller Pflicht gänzlich widerstreite.[32]

 

Es gäbe den Widerspruch in der Form, das, was es zu erhalten gilt, zu zerstören. Das würde sich ad absurdum führen. Im Denken Kants darf der Mensch nicht bloß als Mittel gesehen werden, sondern es ist stets zu berücksichtigen, dass er auch Zweck an sich selbst ist. Dazu hat er den kategorischen Imperativ entsprechend umformuliert: ,,Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person [Hervorhebung von mir M. K.], als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“[33] Weiter schreibt Kant zur Erläuterung:

 

Um bei den vorigen Beispielen zu bleiben, so wird erstlich nach dem Begriffe der notwendigen Pflicht gegen sich selbst derjenige, der mit Selbstmorde umgeht, sich fragen, ob seine Handlung mit der Idee der Menschheit als Zwecks an sich selbst zusammen bestehen könne. Wenn er, um einem beschwerlichen Zustande zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich einer Person bloß als eines Mittels zu Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zu Ende des Lebens. Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muss bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden. Also kann ich über den Menschen in meiner Person nichts disponieren, ihn zu verstümmeln, zu verderben, oder zu töten. […][34]

 

Der Selbstmord würde der Pflicht zur Selbsterhaltung widersprechen, denn das (moralische) Gesetz würde lauten: ,,Beende dein Leben, wenn es nicht mehr lebenswert scheint“. Dass der Mensch aber Zwecke verfolgt, indem er sein Leben bis zuletzt erhält, bleibt hierbei außer Acht. Würde man ihn, also sich zu töten, so würde man ihn (sich) nur als Mittel ansehen. Es wäre demnach unmoralisch sich selbst zu töten. Es gibt eine ganze Reihe von Autoren, die ähnlich wie Kant den Selbstmord ausschließen. Darauf kann an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden. Heute wird das Thema wesentlich flexibler gehandhabt, was jedoch nicht bedeutet, dass es u. U. unmoralisch sein kann, Suizid zu begehen. Auch dies soll nicht weiter verfolgt werden. Es galt ja nur der Tatsache - dass man im Rahmen der Lebensunzufriedenheit solche Gedanken führt - Raum zu geben.

Friedrich Nietzsche geht das Thema in seinen Schriften anders an, wenn er auch mit dem Grundgedanken der Verzweiflung am Leben beginnt aber zu einem völlig anderen Ergebnis gelangt. Ich möchte ihm daher einen größeren Abschnitt widmen, denn bei Nietzsche ist es wichtig, den Originalton zu hören. Gleich zu Beginn eines Buches geht es auch um den Traumcharakter des Lebens und den Umgang damit:

 

D a s  B e w u s s t s e i n  v o m  S c h e i n e. - Wie wundervoll und neu und zugleich wie schauerlich und ironisch fühle ich mich mit meiner Erkenntnis zum gesammten Dasein gestellt! Ich habe für mich e n t d e c k t, dass die alte Mensch- und Thierheit, ja die gesammte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthasst, fortschliesst, - ich bin plötzlich mitten in diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewusstsein, dass ich eben träume und dass ich weiterträumen m u s s, um nicht zu Grunde zu gehen: wie der Nachtwandler weiterträumen muss, um nicht hinabzustürzen. Was ist mir jetzt "Schein"! Wahrlich nicht der Gegensatz irgend eines Wesens, - was weiß ich von irgend welchem Wesen auszusagen, als eben nur die Prädicate seines Scheines! Wahrlich nicht eine todte Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen könnte! Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das soweit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schein und Irrlicht und Geistertanz und nichts Mehr ist, - dass unter allen diesen Träumenden auch ich, der "Erkennende", meinen Tanz tanze, dass der Erkennende ein Mittel ist, den irdischen Tanz in die Länge zu ziehen und insofern zu den Festordnern des Daseins gehört, und dass die erhabene Consequenz und Verbundenheit aller Erkenntnisse vielleicht das höchste Mittel ist und sein wird, die Allgemeinheit der Träumerei und die Allverständlichkeit aller dieser Träumenden unter einander und eben damit d i e  D a u e r  d e s  T r a u m e s  a u f r e c h t  z u  e r h a l t e n.[35]

 

Das Weiterträumen gilt es noch zu vertiefen. In einem weiteren Aphorismus spricht er vom Freimachen gegenüber irgendeines Gottes, der ohnehin obsolet geworden ist:

 

H ü t e n  w i r  u n s. - Hüten wir uns, zu denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nähren? Wie könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen ja ungefähr, was das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es jene thun, die das All einen Organismus nennen? Davor ekelt mir. Hüten wir uns schon davor, zu glauben, dass das All eine Maschine sei; es ist gewiss nicht auf Ein Ziel construiert, wir thun ihm mit dem Wort "Maschine" eine viel zu hohe Ehre an. Hüten wir uns, etwas so Formvolles, wie die kyklischen Bewegungen unserer Nachbar-Sterne überhaupt und überall vorauszusetzen; schon ein Blick in die Milchstrasse lässt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere Bewegungen gibt, ebenfalls Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen. Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; diese Ordnung und die ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen ermöglicht - die Bildung des Organischen. Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen. Von unserer Vernunft aus geurtheilt, sind die verunglückten Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind nicht das geheime Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heissen darf, - und zuletzt ist selbst das Wort "verunglückter Wurf" schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel in sich schliesst. Aber wie dürften wir das All tadeln oder loben! Hüten wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegensätze nachzusagen: es ist weder vollkommen, noch schön, noch edel, und will Nichts von alledem werden, es strebt durchaus nicht darnach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urtheile getroffen! Es hat auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe; es kennt auch keine Gesetze. Hüten wir uns, zu sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe. Es gibt nur Nothwendigkeiten: da ist Keiner, der befiehlt, Keiner, der gehorcht, Keiner, der übertritt. Wenn ihr wisst, dass es keine Zwecke gibt, so wisst ihr auch, dass es keinen Zufall gibt: denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort "Zufall" einen Sinn. Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr seltene Art. - Hüten wir uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues. Es gibt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie ist ein eben solcher Irrthum, wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu  v e r n a t ü r l i c h e n.[36]

 

Es gilt, sich von alten Dogmen zu lösen und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. In seiner frühen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik versucht Nietzsche eine ästhetische Rechtfertigung des Daseins und der Welt“[37]. In dieser frühen Phase seines Denkens betrachtet er das Leben aus dem Blickwinkel der Kunst. Diese „Artisten-Metaphysik“ meint, dass unser Leben durch die Kunst erst erträglich wird. Das menschliche Leben ist für ihn nicht nur mühselig und voller Sorgen, sondern voll von Schrecken und Entsetzlichkeiten, es ist ein „furchtbares Vernichtungstreiben“: „grausam“, „sinnlos“, „absurd“ „ekelhaft“ [38]. Selbst tiefere Einsicht und Erkenntnis können dies nicht ändern und das ist das Schrecklichste. Um es in dieser misslichen Lage auszuhalten und dem Wunsch bald zu sterben, „nicht zu sein, nichts zu sein“, zu entkommen, brauchen wir die Kunst. Erst, wenn man in der Lage ist, sich den aussichtslosen Leiden zu entziehen, kann das Leben „möglich und lebenswerth“ erscheinen. Es ist aber nicht gemeint, dass wir mal schlecht drauf sind und uns ablenken, sondern, es geht vielmehr um die Erhaltung des Lebens überhaupt. Wer den Zugang zur Kunst nicht findet, der geht zugrunde, denn die Verzweiflung am Leben ist eine tödliche Krankheit. Sie tritt nicht punktuell auf, sondern ist notwendig zur individuellen Existenz gehörig. Dies ist der tragische Charakter des Lebens. Deshalb auch die Rede von Rettung, die wörtlich zu nehmen ist: Ohne Kunst ist das Dasein verloren, denn erst ihre verzaubernde, verklärende Kraft macht das Leben „möglich“. Sie ist aber nicht nur Retter in der Not, sondern kann uns weiter tragen hin zur Lust und Lebensfreude, ja bis zur überschwänglichen Daseinsbejahung führen. Sie leitet zur Sinnstiftung im Leben an und bringt einen übergeordneten Zweck in das Handeln. Dieses ästhetische Erleben dient also summa summarum der Selbsterhaltung. Diese Funktion der Kunst wirkt auch in die Entwicklung von Kultur und Gesellschaften. Der Mensch ist ein Wesen, das nach Sinn strebt, nach zweckvollen Zusammenhängen, denen es sich selbst zurechnen kann. Ohne die Illusion bzw. den Schein eines Sinns kann der Mensch weder handeln, noch leben. Der schöne Schein der Kunst ist also unerlässlich. Gerade auch, wenn man keine rechtfertigende Kraft außerhalb der Welt mehr zulässt. „Gott“ und „Vernunft“ sind bestenfalls ironisch in der Geburt der Tragödie konnotiert und ohne legitimierte Kraft. Nietzsche geht es um kein begriffliches Außen, was auf uns wirkt, der Kern des Zugangs ist nur das eigene erlebte Leben. Die Selbstbezüglichkeit des einzelnen Menschen zieht somit den engsten nur denkbar möglichen Kreis. Nietzsche versucht eine lebensfördernde Wertsetzung zu erfassen, die nur auf die Einsicht in die tragische Verfassung des Lebens, auf der Undurchdringlichkeit des Scheins und auf die grundlegende Funktion von Lust und Unlust auch in geistiger Weise hinzuläuft. Die tätige Sinngebung kulminiert dann auch im „Guten“, „Wahren“ und „Schönen“. Wo keine Wahrheit und keine moralischen Werte sind, lässt es sich gelassen leben, weil sich alles – auch Leiden – als Illusion erweist. Da sich alles letztendlich als Täuschung herausstellt, kann das Leben bejaht werden, kann der Lebensekel überwunden werden und – so merkt Nietzsche an – das Leben schöpferisch tätig sein. An dieser Stelle entsteht natürlich die Frage, ob diese Konzeption mit einem Anspruch von Verantwortlichkeit und Verlässlichkeit zu kombinieren sei. Der Schlüssel dazu liegt im Jasagen zum Leben, ohne dieses ist verantwortliches Handeln gar nicht möglich. Und somit kann man anmerken: die Evolution läuft ohne Sinn, ohne Ziel und ohne Plan. Wir sind auf uns selbst gestellt und müssen unser Leben eigenverantwortlich führen. Aus all der Verzweiflung am Leben und der Kälte, die der tote Gott hinterlassen hat, gilt es jetzt, das Leben zu bejahen:

 

Z u m  n e u e n  J a h r e.- Noch lebe ich, noch denke ich: ich muss noch leben, denn ich muss noch denken. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum. Heute erlaubt sich Jedermann seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, - welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süssigkeit alles weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: - so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. W e g s e h e n  sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Großen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein! [39]

 

Anerkennung des Lebens mit all seinen Irrwegen und Irrtümern und mit seiner beschränkten Erkenntnisfähigkeit. Ja sogar das Schicksal ist zu lieben (Amor fati). Jasagen als Programm, als Halt und Stütze in einem chaotischen Weltgetriebe. Gleich im nächsten Aphorismus stützt Nietzsche seine Darlegung:

 

P e r s ö n l i c h e  P r o v i d e n z.- Es gibt einen gewissen hohen Punkt des Lebens: haben wir den erreicht, so sind wir mit all unserer Freiheit, und so sehr wir dem schönen Chaos des Daseins alle fürsorgende Vernunft und Güte abgestritten haben, noch einmal in der größten Gefahr der geistigen Unfreiheit und haben unsere schwerste Probe abzulegen. Jetzt nämlich stellt sich erst der Gedanke an eine persönliche Providenz mit der eindringlichsten Gewalt vor uns hin und hat den besten Fürsprecher, den Augenschein, für sich, jetzt wo wir mit Händen greifen, dass uns alle, alle Dinge, die uns treffen, fortwährend zum Besten gereichen. Das Leben jedes Tages und jeder Stunde scheint Nichts mehr zu wollen, als immer nur diesen Satz neu beweisen; sei es was es sei, böses wie gutes Wetter, der Verlust eines Freundes, eine Krankheit, eine Verleumdung, das Ausbleiben eines Briefes, die Verstauchung eines Fusses, ein Blick in einen Verkaufsladen, ein Gegenargument, das Aufschlagen eines Buches, ein Traum, ein Betrug: es erweist sich sofort oder sehr bald nachher als ein Ding, das "nicht fehlen durfte", - es ist voll tiefen Sinnes und Nutzens gerade für uns! Giebt es eine gefährlichere Verführung, den Göttern Epikur's, jenen sorglosen Unbekannten, den Glauben zu kündigen und an irgend eine sorgenvolle und kleinliche Gottheit zu glauben, welche selbst jedes Härchen auf unserem Kopfe persönlich kennt und keinen Ekel in der erbärmlichsten Dienstleistung findet? Nun - ich meine trotzalledem! wir wollen die Götter in Ruhe lassen und die dienstfertigen Genien ebenfalls und uns mit der Annahme begnügen, dass unsere eigene praktische und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen der Ereignisse jetzt auf ihren Höhepunkt gelangt sei. Wir wollen auch nicht zu hoch von dieser Fingerfertigkeit unserer Weisheit denken, wenn uns mitunter die wunderbare Harmonie allzusehr überrascht, welche beim Spiel auf unserem Instrumente entsteht: eine Harmonie, welche zu gut klingt, als dass wir es wagten, sie uns selber zuzurechnen. In der That, hier und da spielt Einer mit uns - der liebe Zufall: er führt uns gelegentlich die Hand, und die allerweiseste Providenz könnte keine schönere Musik erdenken, als dann dieser unserer thörichten Hand gelingt. [40]

 

Weiter geht es in diesem Sinne und das Leben hat noch mehr zu bieten, man muss nur genau hinsehen:

 

I n  m e d i a  v i t a.- Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es vielmehr wahrer, begehrenswerther und geheimnissvoller, - von jenem Tage an, wo der große Befreier über mich kam, jener Gedanke, daß das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe - und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängnis, nicht eine Betrügerei! - Und die Erkenntniss selber: mag sie für Andere etwas Anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein Müßiggang, - für mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben. "D a s  L e b e n  e i n  M i t t e l  d e r  E r k e n n t n i s s" - mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar  f r ö h l i c h  l e b e n  u n d  f r ö h l i c h  l a c h e n! […] [41]

 

Bei allem Ungemach des Lebens, ist es doch nicht enttäuschend, wenn man etwas daraus macht und es zur Erkenntnis nutzt und gleichzeitig ist das Leben auch ein seltsames Experiment. Es sind Versuche zu machen und daraus sind wiederum weitere Schlüsse für das weitere Leben zu ziehen und man muss sich darauf vorbereiten:

 

V o r b e r e i t e n d e  M e n s c h e n.- Ich begrüsse alle Anzeichen dafür, dass ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit wieder zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes einmal nöthig haben wird, - jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntniss trägt und Kriege führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen. Dazu bedarf es für jetzt vieler vorbereitender tapferer Menschen, welche doch nicht aus dem Nichts entspringen können - und ebensowenig aus dem Sand und Schleim der jetzigen Civilisation und Grossstadt-Bildung: Menschen, welche es verstehen, schweigend, einsam, entschlossen, in unsichtbarer Thätigkeit zufrieden und beständig zu sein: Menschen, die mit innerlichem Hange an allen Dingen nach dem suchen, was an ihnen  z u  ü b e r w i n d e n  ist: Menschen, denen Heiterkeit, Geduld, Schlichtheit und Verachtung der großen Eitelkeiten ebenso zu eigen ist, als Grossmuth im Siege und Nachsicht gegen die kleinen Eitelkeiten aller Besiegten: Menschen mit einem scharfen und freien Urtheile über alle Sieger und über den Antheil des Zufalls an jedem Siege und Ruhme: Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten, gewohnt und sicher im Befehlen und gleich bereit, wo es gilt, zu gehorchen, im Einen wie im Anderen gleich stolz, gleich ihrer eigenen Sache dienend: gefährdetere Menschen, fruchtbarere Menschen, glücklichere Menschen! Denn, glaubt es mir! - das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuss vom Dasein einzuernten, heißt: g e f ä h r l i c h  l e b e n! Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit euch selber! Seid Räuber und Eroberer, so lange ihr nicht Herrscher und Besitzer sein könnt, ihr Erkennenden! Die Zeit geht bald vorbei, wo es euch genug sein durfte, gleich scheuen Hirschen in Wäldern versteckt zu leben! Endlich wird die Erkenntnis die Hand nach dem ausstrecken, was ihr gebührt: - sie wird  h e r r s c h e n  und  b e s i t z e n  wollen, und ihr mit ihr![42]

 

Mit Krieg ist hier der in unserem eigenen Inneren gemeint, denn das Leben ist von agonaler Struktur. Es kämpft in uns, seien es Wille, Triebe, Motivationen und Entscheidungen, die jeweils um ihre Vormachtstellung ringen. Man muss quasi mit seinem Inneren Haus halten und sehen, dass man einigermaßen aufgeräumt ist und darüber hinaus muss man an sich glauben:

 

Der Glaube an sich.- Wenige Menschen überhaupt haben den Glauben an sich: - und von diesen Wenigen bekommen ihn die Einen mit, als eine nützliche Blindheit oder theilweise Verfinsterung ihres Geistes - (was würden sie erblicken, wenn sie sich selber auf den Grund sehen könnten!), die Anderen müssen ihn sich erst erwerben: Alles, was sie Gutes, Tüchtiges, Grosses thun, ist zunächst ein Argument gegen den Skeptiker, der in ihnen haust: es gilt, diesen zu überzeugen oder zu überreden, und dazu bedarf es beinahe des Genie's. Es sind die großen Selbst-Ungenügsamen.[43]

 

Man darf nicht ruhen bis man den Glauben an sich gefunden hat und wenn man sich auch dazu überreden muss! Kritikfähigkeit erfordert dies aber auch noch, selbst wenn dabei die Unvernunft hereinbricht:

 

Zu Gunsten der Kritik.- Jetzt erscheint dir Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stößt es von dir ab und wähnst, dass deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrthum damals, als du noch ein Anderer warst - du bist immer ein Anderer -, dir ebenso nothwendig wie alle deine jetzigen "Wahrheiten", gleichsam als eine Haut, die dir Vieles verhehlte und verhüllte, was du noch nicht sehen durftest. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getödtet, nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr an's Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches, - es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, dass lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstossen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben und sich bejahen will, Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! - Dies zu Gunsten der Kritik.[44]

 

Die Kritik ist hier positiv besetzt, also eine konstruktive Kritik, die auch keine Vernunft mehr nötig hat, sie ist klar und rein und so kann sich der Erfolg entsprechend einstellen:

 

Gefahr des Glücklichsten.- Feine Sinne und einen feinen Geschmack haben; an das Ausgesuchte und Allerbeste des Geistes wie an die rechte und nächste Kost gewöhnt sein; einer starken, kühnen, verwegenen Seele geniessen; mit ruhigem Auge und festem Schritt durch das Leben gehen, immer zum Äußersten bereit, wie zu einem Feste und voll des Verlangens nach unentdeckten Welten und Meeren, Menschen und Göttern; auf jede heitere Musik hinhorchen, als ob dort wohl tapfere Männer, Soldaten, Seefahrer sich eine kurze Rast und Lust machen, und im tiefsten Genusse des Augenblicks überwältigt werden von Thränen und von der ganzen purpurnen Schwermuth des Glücklichen: wer möchte nicht, dass das Alles gerade sein Besitz, sein Zustand wäre![…][45]

 

Zum Abschluss des Nietzsche-Teils soll die Feststellung Zarathustras stehen: „Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.“[46] Man braucht es auch, um gegen die Wirren im Leben anzukämpfen. Der Mensch ist das „phantastische Thier“[47], das die Fähigkeit dafür besitzt. Wir haben jetzt eine Stufe im Aufgang des Lebens betreten, in der nur noch die Frage nach der Zufriedenheit (als kontinuierlicherer Zustand) im Raum steht. Was kann man dafür tun?

Bevor dies beantwortet werden kann, gilt es, das bisher erarbeitete noch einmal Revue passieren zu lassen. Rieten die antiken Autoren zur ataraxia, zu einer gewissen Entspanntheit gegenüber den äußeren Einflüssen und besonders denen, gegen die man nichts in seiner Macht stehende tun kann. Montaigne rät zu einer Gelassenheit und Akzeptanz des Todes und erinnert daran, dass er in jeder Lebensstunde berühren kann, wobei ich ergänzen würde, dass es gar nicht der Tod mit all seiner Härte sein muss, sondern auch dramatische Ereignisse, die uns von jetzt auf gleich erreichen können, wozu es nötig ist, vorbereitet zu sein. Schließlich haben wir Nietzsches Einstellung gegenüber dem Kampf des Lebens kennen gelernt. In einer chaotischen Welt ist nichts beständig und wir sind ständig von der Flut der Ereignisse bedroht. Dennoch zeigt Nietzsche Wege auf, um aus diesem Tohuwabohu[48] einigermaßen lebenskonform heraus zu kommen. Ein Weg von ihm, bezieht sich auf die Kunst, die uns zum „Im-Lebensgleis-bleiben“ verhelfen kann. Schließlich ist von uns ein Jasagen nötig, um auch die Freude und die Morgenröte erleben zu können. Unser Leben kann demnach durchaus eine Erfüllung finden, auch wenn es keinen Sinn im Leben geben sollte. Nach all diesen Konzepten und Darstellungen stellt sich die Frage des Sich-darauf-Einrichtens oder anders gesagt, wie kann ich mich auf Ausnahmesituationen einstellen ohne in Panik zu geraten (nur im Kreis mit hochgerissenen Armen laufen bringt hier nichts, denn es wäre viel zu spät)? In diesem Fall hilft nur Übung (Askesis). Und Üben ist ein menschlicher Vorgang, der ebenfalls in der Antike dezidiert propagiert wurde. Wir hörten ja schon, dass dramatische Szenarien zu antizipieren sind und so müssen wir uns die Verhaltensverweisen für den Notfall zurechtlegen, zurechtmachen. Es muss ins Gedächtnis gebracht werden (memorieren), was im Ernstfall zu tun ist und dies möglichst weit vor einer möglichen Katastrophe. Und dies gilt genauso für Techniken, die das eigene Leben erhöhen können. Peter Sloterdijk hat – auf Nietzsches Philosophie bauend –einen Übungshorizont des Menschen herausgearbeitet, ja vielmehr eine anthropologische Größe damit ausgeleuchtet.[49] Nietzsches Schlüssel dazu lautet: „Vor allem und zuerst die Werke! Das heisst Übung, Übung, Übung! Der dazugehörige ‚Glaube‘ wird sich schon einstellen – dessen seid versichert.“[50]

Bevor wir etwas mehr zu Sloterdijks Überlegungen sagen, beleuchten wir in kurzem Aufriss das Übungs-Repertoire der Antike. In philosophischen Schulen bzw. Akademien gehörte eine philosophische Lebensform zur Grundausbildung. Um sich die Sentenzen und die Inhalte „einzuverleiben“ lernte man sie auswendig und versuchte sie stets bereit zu haben, um ein ethisches Leben zu führen oder es entsprechend zu lehren. Aristoteles hat dem Einüben der Tugend ein ganzes Buch gewidmet. [51] Die Philosophie der Antike war keinem elitären Zirkel vorbehalten, sondern war auch für den gemeinen Bürger bestimmt. Einen Philosophen hatte man in allen Lebenslagen zur Seite, ja sogar bis zur Begleitung in den Tod. Soweit die antike "Therapiegesellschaft".

In Sloterdijks Buch Du mußt dein Leben ändern geht es um ein Streben nach oben und zwar vertikal und nicht horizontal zu verstehen. Bereits als Kind blicken wir nach oben zu den Eltern, den Großeltern, was bereits eine Vertikal-Situation einschließt. Der Erwachsene oben und die Perspektive für das Kind von unten. Später wachsen die Kinder den Eltern über den Kopf und richten ihren Blick hoch zu den „Kulturheroen und Wissensvermittlern.“ Nach dem Tod Gottes bleibt nur der Blick hoch zu Präsidenten und Prominenten und bietet somit keine adäquate Lösung. Will man einen neuen König einsetzen, so muss es ein Mensch sein, der durch besondere Merkmale über andere herausragt. Ein Akrobat oder Artist vielleicht, der ein „Heraus-Rager“ (lateinisch. prominiere, "herausragen", "hervorstehen"). Wir wollen hier gar nicht den Begriff des „Übermenschen“ strapazieren, sondern nehmen eine Figur zu der man aufblicken kann: ein Seiltänzer, dem ein ständiges Training zum Verweilen auf dem Seil verhilft. Prominente sind diese Artisten, die uns immer wieder neue Seile über die Köpfe spannen. Um es abzukürzen: Wir nehmen ein „Über“ wahr, „ein da oben“ und werden uns bewusst, dass wir in diese Sphären auch hinein könnten. Nach Nietzsche wird es zwar immer Gott und Götter geben, aber sie sind immanent, wir können dahin streben, im Jetzt und Hier. Um das Gebirge zu erklimmen, müssen wir das Basislager jedoch verlassen. Das Gebirge ist ein Konvolut von Aufgaben. Der artistische Wille dient dann zur Verwandlung der Zukunft. Es gilt, das bisherige Leben zu besiegen, seine Hindernisse zu beseitigen und in gestufter Weise „Steigerungsarbeiten“ vorzunehmen, wobei der Gipfel das erstrebte Ziel ist. Dazu muss man sich künstlerisch, vielmehr göttlich bewegen und aus dem Nichts etwas schaffen. Wie Nietzsche ja bereits forderte: ‚Einen Schaffenden sollst du schaffen…ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung.‘ Zur Illustration dieser Forderung mag hier ein Gedicht von Friedrich Hölderlin beitragen:

                                                                               An die Parzen

 

Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!

Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,

Daß williger mein Herz, vom süßen

      Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

 

Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht

              Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;

Doch ist mir einst das Heilge, das am

       Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,

 

Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!

  Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel

Mich nicht hinab geleitet; Einmal

                                 Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarf‘s nicht.[52]

 

Die schweren Wanderwege werden bald auch für Untrainierte begehbar, weil sie der Kulturprozess verwandelt und ausbaut und der Artist ist bereits wieder unterwegs, um neue Hindernisse zu beseitigen. Von dort an ist der weitere akrobatische Weg noch offen.[53]

Dieses Projekt kann in den Bereich des intensiven Lebens hineinreichen. Und das liegt ganz im Trend der Zeit, Erlebnisse des "höher", "weiter", "schneller" bewegen die Menschen der unmittelbaren Gegenwart. Es kann immer noch eine Schippe draufgelegt werden: Ein noch höherer Berg kann erklommen werden, in einen noch tieferen Abschnitt des Meeres kann hinab getaucht werden. Ein guter Wein schmeckt besser als der letzte. Ein Erlebnis ist am intensivsten, wenn es zum ersten Mal spürt und es am besten auch noch unerwartet passiert. Die Kehrseite der Medaille bei dieser Lebensweise ist allerdings: es wird hektisch, die Zeit ist knapp, man hängt immer an der neusten Mode bis hin zur Schlaflosigkeit. Die Hatz nach neuen Abenteuern wird immer schneller und immer schneller wird das Erreichte zum Gewöhnlichen. Es enthält nicht mehr den Zauber des ersten Mals. Aber nicht mehr intensiv zu leben, heißt dann Erstarrung. Die Intensität muss immer stärker werden.[54] Erschöpfungszustände können dazu führen, nichts mehr erleben zu können, alles fühlt sich gleich langweilig an.[55] Um sich in diesem Getümmel wohl zu fühlen, ist es wichtig, das erste Mal möglichst oft wiederzubeleben – es so zu sagen zu konservieren. Natürlich gibt es für das Phänomen des intensiven Lebens keine Paradelösung. Irgendwie lebt man mit Widerständen, mit Höhepunkten, die sich intensiv anfühlen, andererseits im grauen Alltag, der sich schon einmal wie ein gewöhnlicher Wellengang zeigt. Hier gilt es, eine Balance zu finden. Am vorläufigen Ende wird man vielleicht fragen, warum wir den steinigen Weg über den Übungshorizont Sloterdijks und den Pfad des intensiven Lebens beschritten haben.

Gehen wir illusorische Wege? Irren wir uns? Verfallen wir einem Gaukelspiel? Betrügen wir uns selbst? Zumindest Goethe hat in seinem Faust den „Herr“ sagen lassen: „Es irrt der Mensch solang‘ er strebt.“[56] Das Irren scheint somit eine anthropologische Größe zu sein, die uns, in dem wir leben, inhärent ist. Erinnern wir uns an Nietzsches Aphorismus 54 aus Die fröhliche Wissenschaft: wir müssen weiterträumen um nicht hinabzustürzen und in der Tat klingt das nach einem gewissen Selbstbetrug. Nicht zu vergessen, dass wir nach dem Tode Gottes auf uns alleine gestellt sind, wir müssen handeln, wir müssen denken und unsere ganzen Fähigkeiten in die Waagschale des Lebens werfen. Leben ist immer Wagnis, hatte schon der platonische Sokrates festgestellt. Jeder ist seines Glückes oder Unglückes Schmid. Es kann also durchaus "gesund" sein, sich Illusionen hinzugeben, Luftschlösser zu bauen, weil die Baukosten gering sind, wie Ernst Bloch einst bemerkte. Solange die Sache keine haltlose Spinnerei ist, kann sie uns im Gleis halten. Weiter sagt Bloch zu dieser Thematik:

 

Zwar wir leben und wissen nicht wozu. Wir sterben und wissen nicht wohin. Ich kann leichthin sagen, was ich jetzt und nachher will, aber niemand kann sagen, was er überhaupt will. In diesem doch so sehr zweckhaftem Leben. Mich wundert, daß ich fröhlich bin! sagt ein alter Türspruch.[57]

 

Ein wichtiges Moment ist tatsächlich der Wille, der nicht schwach werden darf. Und überhaupt sollte ich wissen, was ich will. Es bestimmt ja schließlich mein ganzes Leben mit all seiner Moral, Empfindung, Alltagsleben u. v. m. Dabei ist es eben auch gut zu wissen, was man nicht will. Nietzsche forderte ja in seinen Schriften den "Willen zur Macht". Eine kurze Stelle zur Verdeutlichung mag das belegen:

 

Der  W i l l e n s starke 1) er sieht das Ziel deutlich. 2) Er traut sich die Kraft zu, zu den  M i t t e l n mindestens. 3) Er hört auf sich mehr als auf andere. 4) Er ermüdet nicht leicht, und in der Ermüdung  e r b l a s s e n  seine Ziele  n i c h t. Er ist ein geübter Bergsteiger. 5) Er erschrickt nicht sehr und oft. Also: diese Art Freiheit des Willens, die man an ihm rühmt, ist  B e s t i m m t h e i t  und  S t ä r k e  des Wollens, nebst Geübtheit und Schwäche der Phantasie, sowie Herrschaft oder Herrschsucht und Selbstgefühl. Man redet von F r e i h e i t  weil diese  g e w ö h n l i c h  mit Kraft und Herrschaft verbunden ist. [58]

 

Leider kann an dieser Stelle nur kurz auf diese Gedankenkonstruktion eingegangen werden: War in der Aufklärungs- und Nachaufklärungszeit die Vernunft der Primat in anthropologischen Annahmen, so wandelte sich das mit der Romantik (stärkere Betonung der Gefühle) und besonders seit Arthur Schopenhauer hin zum Willen, war er hier noch ein blinder Drang, der uns nicht unbedingt in Ruhe lässt und darüber auch verneint werden muss, da die Verneinung des Willens zum Leben Raum für Kunst und Ethik bereitet. Erst mit Nietzsche und der Zeit danach setzt sich der Wille als Formungskonzept durch. Der Mensch muss seinen Willen zur Macht werden lassen, was für das Leben unerlässlich ist. Natürlich gibt es weiterhin Philosophien, die die Vernunft nach wie vor bevorzugen. Zu dieser Konstellation soll ein Beispiel geliefert werden:

 

Dann gibt es eine tiefere Bedeutung des Menschseins, von der ich nur kurz sprechen möchte: Der Mensch kann nur dann die Hoffnung haben, Mensch zu sein, wenn er etwas in sich weiß, das nicht nachgibt. Etwas, das jenseits der Vernunft ist, das zur Freiheit selbst gehört. Dieses Etwas ist jenseits des Argumentierens, es ist da, wo Sophokles‘ Antigone beschließt, den Leichnam ihres Bruders mit Erde zu bedecken, obgleich sie weiß, daß diese Erde wieder entfernt werden und ihre Tat zur Katastrophe führen wird. [59]

 

Warum macht sie das? Aus Vernunftgründen jedenfalls nicht. Dinge müssen getan werden und andere Dinge, die nicht getan werden dürfen. Die Grenze dazu liegt irgendwo im Menschen, wenn auch nicht bei jedem Menschen dieselbe, wo sich plötzlich ein non possumus[60] erhebt. Es sind dann Dinge, die getan werden müssen, wie z. B. Widerstand leisten, und tatsächlich ist das unmöglich Scheinende manchen Menschen gelungen, was eine Sinngebung für ihr Leben bedeutete.[61] Natürlich kann, will und wird nicht jeder Mensch das ganz große Wagnis versuchen, aber selbst im Alltag scheint es manchmal nötig sein zu sagen: "Ich kann nicht…"

Die Zeit ist reif geworden. Wir müssen uns fragen, ob wir mit dem Gesagten zu einem ruhigeren und zu einem zufriedeneren Leben kommen können. Es darf und muss hier noch einmal erinnert werden, dass philosophische Inhalte nicht einfach 1:1 ins Leben integriert werden können und sollen. Philosophie ist ein Angebot bzw. eine Anzahl von Vorschlägen, die man durchdenken sollte, um sich dann das für sich Passende anzueignen.

Manchmal ist es auch gut, ein "temporärer Autist[62]" zu sein und die äußeren Ereignisse ziehen zu lassen, keine Notiz von ihnen zu nehmen. Nichts mehr hören und sehen wollen, die Medien und sonstigen Informationen einfach zu ignorieren, zumindest für einen gewissen Zeitraum.

Diese Quintessenzen sind zu verfolgen und es gilt, bei allem, was wir tun uns auch ironisch zu betrachten und auch mal über uns selbst zu lachen, was gar nicht denunziatorisch sein muss. Auf diesen Wegen gilt es, auch immer nach der - in der antiken formulierten - Gemütsruhe zu streben und einem zufriedenen Leben so nach zu kommen, wie es nur möglich ist.

 

 

Literatur:

 

Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Erste Fassung Werkausgabe Bd. 16. Frankfurt am Main 1985.

 

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Zum Streit um ein Zitat von Karl Valentin. Süddeutsche Zeitung v. 14. 10. 2018.

https://www.sueddeutsche.de/muenchen/streit-um-ein-zitat-von-valentin-oder-nicht-1.4168580. Zugriff 12. 07. 2022.

 



[1] Titel einer Arbeit von Sigmund Freud aus dem Jahr 1930.

[2] Vgl. Hersch, Jeanne: Die Hoffnung Mensch zu sein. Essays. 6. Aufl. Zürich 1991. S. 65f.

[3] In diesem Spruch heißt es statt „Leben“ „Kunst“. Zur falschen Zuordnung zu Karl Valentin siehe Süddeutsche Zeitung v. 14. 10. 2018. https://www.sueddeutsche.de/muenchen/streit-um-ein-zitat-von-valentin-oder-nicht-1.4168580. Zugriff 12. 07. 2022.

[4]Vgl. Erzdiözese München und Freising.

https://www.erzbistum-muenchen.de/erwachsene/mit-resilienz-durch-die-krise?gclid=Cj0KCQjwn4qWBhCvARIsAFNAMigWYsJI1fystXT9nD3RKT080D8pNG1GlASSDlXbONDnZwCuyW0lwuoaAhUDEALw_wcB. Zugriff am 05. 07. 2022.

[5] „Stoa“ ist griechisch und bedeutet so viel wie „bunte Halle“. Danach ist diese philosophische Schule benannt worden. Uns interessieren hier besonders die Autoren, Lucius A. Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.), Epiktet (ca. 50-120 n. Chr.) und Marc Aurel (121-180).

[6] Epiktet: Handbüchlein der Moral. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Kurt Steinmann. Stuttgart 1992. 1. S. 5.

[7] Marc Aurel: Selbstbetrachtungen. Übers. u. m. einer Einl. v. Wilhelm Capelle. 12. Aufl. Stuttgart 1973. II, 7. S. 14.

[8] Ich verwende bewusst den Begriff „Glück“ bzw. „Glückseligkeit“ nicht, weil er mir für den hier zu erarbeitenden Lebenskontext zu weit und groß erscheint.

[9] Vgl. Bundschuh, Adeltrud: Die Bedeutung von gelassen und die Bedeutung von Gelassenheit in den deutschen Werken Meister Eckharts unter Berücksichtigung seiner lateinischen Schriften. Frankfurt am Main 1990. S. 110: „Gelassenheit“ kann lateinisch mit resignatio, tranquillitas oder impassibilitas, gegebenfalls auch mit patentia oder abnegativo übersetzt werden. Im Bereich des Griechischen kann auf das stoische „Apathia“ oder epikureische „Ataraxia“ verwiesen werden. Ich führe dies im nächsten Abschnitt näher aus.

[10] Ebd. S. 108-110.

[11] Vgl. Rehbock, Theda: Gelassenheit und Vernunft. Zur Bedeutung der Gelassenheit für die Ethik. In: Demmerling, Christoph u. a. (Hg.): Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Für Friedrich Kambartel. Frankfurt am Main 1995. S. 282.

[12] Das Wort bedeutete in der Sprache der Mystiker zunächst auch „gottergeben“ und später „ruhig“ (im Gemüt). Wobei sich Gelassenheit von mhd. „gelazenheit“ abgeleitet. Vgl. Duden. In zwölf Bänden. Bd. sieben: Etymologie der deutschen Sprache. Das Herkunftswörterbuch. Bearb. Von Günther Drosdowski.2. n. d. neuen dt. Rechtschreibung überarb. Aufl. Mannheim u. a. 1997. S. 227.

[13] Heinrich Seuse: Das Buch der Wahrheit. Hg. v. Loris Sturlese übers. v. Rüdiger Blumrich. Hamburg 1993. S. 67. ,,Er stat in einem gegenwúrtigen nu ane behangnen fúrsatz.“

[14] Ebd. S. 69. „mitlidunge ane sorge in rehter friheit.“

[15] Vgl. Rehbock, Theda: Gelassenheit und Vernunft. S. 283.

[16] Vgl. Heidegger, Martin: Gelassenheit. 14. Aufl. Stuttgart 2008. S. 33. Vgl. Klein, Manfred: Bildhauer seiner selber sein. Möglichkeiten einer bewussten Lebensgestaltung. München 2017. S. 52f.

[17] Vgl. Plutrach (von Chaironeia]:Moralia. 2 Bde. Hg. v. Christian Weise u. Manuel Vogel. Wiesbaden 2012. Bd. 1. S. 798.

[18] Vgl. Rehbock, Theda: Gelassenheit und Vernunft. S. 290.

[19] Seneca, Lucius, A.: Philosophische Schriften Dialoge, Briefe An Lucilius - Ad Lucilium Epistulae morales. 4 Bde. Übers. u. hg. v. Otto Apelt. Wiesbaden 2004. Bd. 3 Briefe an Lucilius 75, 18. S. 309. „in se ipsum habere maximam potestatem“. Vgl. ders.: Von der Gemütsruhe - tranquillitas animi. In ebd. Bd. 2. S. 61-110.

[20] Bloch, Ernst: Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Bd. 1 Antike Philosophie. Frankfurt am Main 1985. S. 427.

[21] Vgl. Ebd. S. 429.

[22] Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt am Main 1998. S. 394.

[23] Ich übernehme hier überarbeitete Teile aus: Klein, Manfred: Bildhauer seiner selber sein. München 2017. S. 64-69 passim.

[24] Theodor W. Adorno behauptete ja, es gäbe kein richtiges Leben im falschen.

[25] Marc Aurel: Selbstbetrachtungen. VII, 59 und VII, 60 S. 98.

[26] Montaigne zitiert Horaz, Epist., 11, 2. 126

[27] Montaigne zitiert Horaz, Epist., 1, 4. 13.

[28] Montaigne zitiert Ovid, Amores, 11, 10. 36.

[29] Montaigne zitiert Seneca, Epist. 22.

[30] Montaigne zitiert Manilius, Astronomica, IV, 16.

[31] Montaigne, Michel: Die Essais. Ausgew. übertr. u. Eingel. v. Arthur Franz. Stuttgart 1976. Aus S. 52-62.

[32] Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werkausgabe in 12 Bänden. Bd. VII. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 11. Aufl. Frankfurt am Main 1991. BA 53. S. 52. Im Folgenden unter dem Sigel GMS zitiert.

[33] GMS BA 67. S. 61. Einen Menschen nur auszubeuten, z. b. als billige Hilfskraft ohne Rechte und mit zu wenig Lohn würde nicht berücksichtigen, dass er einen Lebenszweck verfolgt; Familie haben, Wünsche und Absichten im Leben zu verfolgen usw.

[34] GMS BA 67. S. 61.

[35] Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. KSA Bd. 3. Berlin/New York 1988. 54. S. 416f. Im Folgenden unter dem Sigel „FW“ zitiert.

[36] FW 109. S. 467ff.

[37] Vgl. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. KSA 1. Berlin /New York 1988. Versuch einer Selbstkritik 5; GT 5. S. 42-48. Im Folgenden unter dem Sigel GT zitiert.

[38] GT 7. S. 52ff.

[39] FW 276. S. 521.

[40] FW 277. S. 521f.

[41] FW 324. S. 552f.

[42] FW 283. S. 526f.

[43] FW 284. S. 527.

[44] FW 307. S. 544f.

[45] FW 302. S. 541.

[46] Also sprach Zarathustra. KSA Bd. 4. Berlin/New York 1988. S. 19.

[47] Vgl. FW 1. S. 372.

[48] Das Wort stammt aus dem Hebräischen und taucht im Alten Testament (Genesis 1,1-2) auf („…die Erde war wüst leer“ übersetzte Martin Luther.

[49] Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern. Frankfurt am Main 2009.

[50] Nietzsche, Friedrich: Morgenröte. KSA Bd. 3. 22. S. 34.

[51] Die Nikomachische Ethik ist die erste verschriftlichte, systematische Ethik überhaupt.

[52] Hölderlin Friedrich: Sämtliche Gedichte und Hyperion. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 1999. S. 197.

[53] Vgl. Sloterdjk, Peter: Du mußt dein Leben ändern. S. S. 179-184 u. S. 191-194.

[54] Vgl. Garcia, Tristan: Das intensive Leben. Eine moderne Obsession. Berlin 2016. S. 125.

[55] Vgl. ebd. S. 182.

[56] Goethe, Johann W. Faust. Eine Tragödie. In ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 3. 16. Aufl. München 1998. 317. S. 18.

[57] Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Erste Fassung Werkausgabe Bd. 16. Frankfurt am Main 1985.

[58] Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente. Notizbuch Juli-August 1879. 42[25] KSA. Berlin/New York 1988. S. 600.

[59] Hersch, Jeanne: Die Hoffnung Mensch zu sein. S. 71.

[60] „Wir können nicht“.

[61] Vgl. Hersch, Jeanne: Die Hoffnung Mensch zu sein. 71f

[62] Gemeint sind hier nicht die pathologischen Fälle bzw. die betroffenen Menschen, denn natürlich ein großer Respekt zu zollen ist.