Transzendente Wirklichkeit – versteckte Welt? Zur Ideenlehre von Platon

 

Bereits seit ihrer Entstehung sucht die Philosophie nach dem Urgrund von allem was ist, also nach Wahrheit und dem, was für uns wirklich ist. Eine logische Wahrheit besteht für uns, wenn unsere Urteile inhaltlich mit dem entsprechenden Sachverhalt übereinstimmen. [1] Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom Seienden, wenn es ist, was es sein soll, dann ist es wahr im Sinne einer ontologischen[2] Wahrheit. So sprechen wir von wahrem Gold, wahren Bäumen, wahren Pferden usw.

In dieser Intention hat Platon ebenfalls seine Philosophie aufgebaut, mit der Suche nach einem Grund von allem was existiert. Er hat dazu kein System erschaffen, wie später Immanuel Kant oder Georg W. Hegel, sondern legt sein Denken und Ringen um die Wahrheit in Dialogen vor, in denen oft Sokrates der Redeführer ist.[3]

Für das Denken Platons wird der ontologische Wahrheitsbegriff der maßgebliche, worin er zwischen wahrem Sein und einem „Seienden“, das kein wahres Sein ist und in der Mitte zwischen Sein und Nichtsein steht, unterscheidet. Das, was wir mit unseren Sinneswahrnehmungen feststellen, ist also nicht das Wahre oder Wirkliche. Das Wahre ist für Platon etwas Ursprüngliches, das dem Seienden seine Existenz im Sinne von Wirklichsein verleiht: die Idee. Das Seiende, also z. B. das Pferd, das wir sehen können ist von der „Idee“ (Urbild) des Pferdseins abhängig, es ist sein Abbild. Das Seiende, hier in Form des Pferdes wird die ideale „Pferdheit“ nie erreichen können, es kann sich als Abbild nur höchstmöglich annähern. Die Idee, streng genommen, müsste man sagen die Form, ist als etwas Wahres auch unveränderlich, ewig, besser gesagt, zeitlos und nur dem Denken zugänglich. Diese These verlangt nach einer ausführlichen Erklärung die im Folgenden gegeben werden soll.

Das mag für uns heute etwas seltsam klingen: eine Welt hinter der Welt, eine versteckte, ideale Welt? Dazu vielleicht noch ein anderes Beispiel: die Gerechtigkeit ist eine Idee und alles was in unserer sinnlichen, also wirklichen Welt gerecht erscheint, hat seinen Grund in der Idee. Etwas Gerechtes in der Welt wäre also nur unvollkommen gerecht, denn es erreicht die Idee der Gerechtigkeit niemals. Auch hier wirkt bestenfalls die höchst mögliche Annäherung an das, was gerecht sein soll. Gerade die abstrakten Begriffe wie die Gerechtigkeit, das Schöne, Wahre und Gute verdeutlichen das platonische Denken sehr plastisch. Das Schöne finden wir in der wirklichen Welt nicht, wir sehen schöne Dinge, wie z. B. Häuser, Landschaften, Kunstwerke, die wir als „schön“ bezeichnen; letztlich aber, bleiben es Häuser, Landschaften und Kunstwerke, die die „Schönheit“ von der Idee des Schönen verliehen bekommen haben.

Platon interessiert der Ursprung der Wahrheit, aber wo ist sie zu finden? In der Beantwortung dieser Frage scheidet er die Sinnlichkeit als mögliche Wahrheitsquelle aus. Das gilt sowohl für die subjektive Sinneswahrnehmung, wie auch für die objektive Welt in Raum und Zeit, also dem, was wir als Wirklichkeit bezeichnen würden. Allerdings sind die Sinneswahrnehmungen unzuverlässig. Wir machen die Erfahrung, dass unsere Augen Dinge immer wieder anders sehen und die übrigen Sinne sind noch unzuverlässiger. Andere Menschen sehen dieselben Dinge oder Gegebenheiten oft anders als sie uns erscheinen. Durch diese Umstände steht Platon der Sinneserfahrung skeptisch gegenüber, da es keine einheitliche Erfahrung bzw. Erkenntnisse gibt. Um zu der wahren Wirklichkeit zu gelangen, muss der Philosoph sterben; dann sieht er die Ideen, die die reine Wahrheit verkörpern. Die Welt der Sinne ist ständiger Bewegung unterworfen, d. h. alles ist im Fluss, so wie Heraklit dies bereits vor Platon formuliert hatte. Wenn alles fließt, kann es keine beständige Wahrheit und auch keine Wissenschaft geben, denn gerade der Wahrheitsbegriff fordert gerade ein mit sich selbst Identischsein. Für Platon sind sinnliche Meldungen keine formale Erkenntnis, denn eine bestimmte Sinneswahrnehmung liefert das Material, das erst mit dem anderer Sinneswahrnehmungen zusammengebracht und verglichen wird und dann erst zu einer Ist-Aussage des urteilenden Erkennens führt, was wir gemeinhin als Gegenstand von Wahrheit und Wissenschaft bezeichnen. Dieses urteilende Erkennen kann jedoch nicht sinnlich sein, da jede Sinneswahrnehmung einem einzelnen Sinnenorgan zukommt. Das Erkennen überschaut die Ergebnisse dieser Einzelwahrnehmungen der Sinne, fasst sie zusammen und verarbeitet sie. Damit wird einsichtig, dass die Sinnlichkeit selbst nie der Ursprung der Wahrheit sein kann.[4]

Die Quelle der Wahrheit ist in der Seele zu suchen: Wenn die Seele „aber durch sich selbst betrachtet, dann geht sie zu dem reinen, immer seienden Unsterblichen und sich stets Gleichen […] dann hat sie Ruhe von ihrem Irren und ist auch in Richtung auf jenes immer sich selbst gleich, weil sie ebensolches berührt…“[5] Gemeint ist hier das reine Denken, wovon auch die Erkenntnis letztlich lebt. Dieses Wissen um die Wahrheit besitzt der Geist von Natur aus, was bedeutet, er braucht es nicht irgendwann zu erlernen. [6] Dies betrifft das Wissen vom an sich Gleichen, Großen, Kleinen, Guten, Gerechten, dem Menschen usw. Das „an sich“ steht dabei für das „Wesen an sich“. Begriffe, Gedanken und das Wissen um etwas bezeichnet Platon eben als „Ideen“. Somit sind wir beim bereits Gesagten: Die Idee ist unveränderlich, genauso wie die echte Wahrheit. Diese Ideen sind uns angeboren, es ist ein Wissen, was wir durch Wiedererinnerung (Anamnesis) aufrufen können. Dieses Wissen, was keinerlei Erfahrung bedarf, hat man a priori genannt; es sind - anders gesagt - ideale Begriffe. In einem vorgeburtlichen Sein, in der Präexistenz der Seele bei den Göttern, haben wir diese reinen Gedanken bekommen und erinnern sie in der sinnlichen Welt in Raum und Zeit wieder. Damit haben wir ein Wissen, was eben nicht aus der Erfahrung stammt, sondern auf Grund der präexistenten Schau der Seele. Das, was wir sinnlich wahrnehmen, hat somit sein Wesen im übersinnlichen Bereich, wodurch uns ein Teil der idealen Gestalt übermittelt wird. Das wurde ja bereits am Begriff des Pferdes dargestellt. Wir sind durch diese anthropologische Gegebenheit über das Raumzeitliche hinausgehoben, denn wir können an apriorischen und urbildlichen Gewusstheiten des Geistes partizipieren.

Wichtig für die Philosophie sind die Beispiele mit denen Platon versucht, diese Apriorität seines idealen Wissens zu begründen. Dazu genügt ein Blick wiederum in seinen Dialog Phaidon: Eine Sinneswahrnehmung kann man nicht erstmals haben, ohne dass dabei geistige Inhalte eingehen, die nicht aus der Erfahrung stammen. Beim Vergleich von z. B. zwei Hölzern sieht man, dass sie nie ganz gleich sind, aber dem Begriff der Gleichheit mehr oder weniger nahe kommen. Wie lief dieser Vergleich ab? Durch den Rückgriff auf die Idee der Gleichheit konnten die einzelnen Hölzer gemessen, beurteilt und geordnet werden, ohne den Begriff der Gleichheit, wäre es von Anfang an nicht möglich gewesen diesen Vergleich festzustellen. Platon fasst dies allgemeiner, wenn er sagt: „Ehe wir also anfingen zu sehen oder zu hören oder die anderen Sinne zu gebrauchen, mußten wir schon irgendwoher die Erkenntnis bekommen haben des eigentlich Gleichen, was es ist, wenn wir doch das Gleiche in den Wahrnehmungen auf jenes beziehen sollten, daß dergleichen alles zwar strebt zu sein wie jenes, aber doch immer schlechter ist.“[7] Weiterer dieser idealen Begriffe finden sich noch im Theaitet: Verschiedenheit, Identität, Gegensatz, Bestimmtheit der Zahlen, Einheit, Gerades und Ungerades. Es sind Grundbegriffe allen Erkennens. Natürlich kann man dagegen einwenden, dass all diese allgemeinen Wissensinhalte durch einen Abstraktionsakt gewonnen werden, wogegen jedoch Platon einwenden würde: Einen Abstraktionsprozess kann man nur beginnen, wenn man bereits vorher etwas von Identität, Gleichheit, Einheit usw. weiß, sonst käme der erste Schritt der Abstraktion überhaupt nicht in Gang. Um einen Vergleich durchzuführen braucht man zuerst ein Wissen um Eines und Vieles, Identisches u. a. Wäre dies nicht so, könnte man eine Vorstellung von der anderen gar nicht unterscheiden.

Begriffe wie das Gute, Schönes, Gerechte und das Wahre an sich, sind dem Geist als Urbild schon immer bekannt, man braucht sie nicht erst zu erfahren, sondern hat sie durch die Wiedererinnerung immer parat. Platon ist durch dieses Denken Idealist und Rationalist, der die ganze Sinnenwelt in Raum, und Zeit, das, was wir Wirklichkeit nennen in die Idee hineinnimmt um daraus die Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung zu verstehen. Die Idee muss vorhanden sein, damit wir in der Wirklichkeit überhaupt Erfahrungen machen können.

Platon sei Rationalist und Idealist wie bereits festgestellt wurde, was man sich aber nicht so vorstellen sollte, als sei er wirklichkeitsblind durch die Welt gelaufen und hätte auf jegliche Sinnlichkeit keinen Wert gelegt[8]. Speziell in der Erkenntnislehre von Platon spielt die Sinnlichkeit eine entscheidende Rolle, was sich in Sätzen wie „Die Sinne gebrauchend“, „von den Sinnen ausgehend“ oder auch „die Sinne beiziehend“ ausdrückt. Die Ideen Platons sind nicht Formen und Funktionen, sondern fertige Inhalte und es stehen damit unzählige Begriffe zur Verfügung. Das Wissen der Wesenheiten ist also a priori. Die Erkenntnisinhalte stehen schon fertig bereit und müssen nur bewusst gemacht werden und genau dies leisten die Sinne, aber auch nicht mehr. Auch für diesen Vorgang hat Platon ein Beispiel im Phaidon gegeben: Sehe ich das Bild eines Freundes, so erinnert es mich an ihn, weil es mich veranlasst, das von ihm aktuell zu denken, was ich potenziell schon immer von ihm weiß, d. h. die bildlichen Eindrücke liefern mir nicht ein Bild meines Freundes, denn das habe ich bereits. Sie bewirken aber, mich meiner apriorischen Wissensinhalte bewusst zu werden.[9] Genauso wirkt dies, wenn ich einen Kreis, ein Rechteckt, ein Tier oder einen Baum o. a. sehe. Deswegen erhält die Gesamtheit der Sinnlichkeit bei Platon den Charakter des Abbildhaften, so wie wir jedes Bild nur vom Abgebildeten her verstehen. Daher müssten wir alle unsere Sinneswahrnehmungen auf Urbilder beziehen, weil sie ja deren Abbilder sind. Wir leben in unserer alltäglichen Wirklichkeit im Bereich der Abbilder, das klingt zunächst abwertend, wir bewegen uns also im nicht vollkommenen Bereich der Einzeldinge. Dennoch ist klar: Wir benützen Dinge, stellen sie her, vermarkten sie usw. Mit dem Abbild eines Hammers kann ich dennoch einen Nagel in die Wand schlagen.

Wie aber korrelieren Urbild (Idee) und Abbild (Einzelding, Seiendes)? Platon löst dieses Problem mit der Teilhabe. Wenn wir einen Gegenstand wahrnehmen, so erkennen wir ihn analog zum Urbild, das in jedem Erkennen mitgedacht wird. Das ist beim Demiurgen (Welterbauer) nicht anders, wenn er nach den Ideen die Welt erschafft und so im Hinblick auf Urbilder alles Seiende kreiert.[10] Daher nehmen wir das Wesen und die Werterkenntnis war, auch in Hinblick der Ethik; indem wir das Gute erkennen, tun wir es.

Richtet sich der Mensch in seiner Erkenntnis nicht auf die Ideen, so bleibt er in der Sinnlichkeit verhaftet, sein Erkennen ist dann nicht Wissen, sondern Meinung. Was bedeutet dies? In dieser Situation hat er es nur mit dem Bereich des Veränderlichen zu tun und wird nie zu wirklichem Wissen gelangen, da es hierin gar nicht zu gleichbleibenden Sätzen und Wahrheiten kommen kann. David Hume wird dies später ebenfalls als empirisch-naturwissenschaftliches Erkennen im Sinne eines Glaubens charakterisieren und auch Platon bezeichnet es so. Der Mensch ist immer unsicher über die Konstanz des Naturgeschehens. Meinen bleibt eventuell auch nur Meinen, weil es eine nur mangelhafte, indirekte Einsicht in die wahren Sachverhalte geben kann. Natürlich kann „göttliche Fügung“ das Wahre treffen, aber wenn die Begründungszusammenhänge nicht positiv gewusst werden, handelt es sich auch nicht um genuines Wissen, eher um ein Erraten oder einen Glücksfall, auf den selbstverständlich kein Verlass ist. Platon ist aber auch klar, dass das zufällig gefundene wahre Wissen mehr als ein Nichtwissen sein kann. Das Ideal bewirkt jedoch die Einsicht in die ewig bestehenden, unveränderlichen Wahrheiten, die in Ideen und Begriffen zu finden sind.

Der Inhalt der Ideenwelt war von Platon zunächst nur auf das Gute, Schöne und Gerechte begrenzt worden. Im Phaidon kommen aber auch logisch-ontologische Relationen dazu, wie z. B. die Idee des Gleichen, des Gegensatzes und weitergehend alle Wesenheiten überhaupt. Die Anzahl aller möglichen Ideen ist ebenso unbegrenzt, jedenfalls findet sich bei Platon keinerlei Hinweis auf eine bestimmte Menge von Ideen.

Platons ist der Überzeugung, dass das Denken sich mit den unveränderlichen Gegenständen befasst, denn die Seele verhält sich zu diesen Dingen immer in dieser Weise, da sie auf diesem Weg etwas erfasst, das wiederum selbst auch von dieser Art ist. [11] Es sind Entitäten, die wir stetig im Mund führen: „Das Gleiche selbst, das Schöne selbst, und so jegliches, was ist.“ Diesen Wesenheiten kommen überhaupt keine Veränderungen zu, sie bleiben immer gleich.[12] Diese „Ideen“ tragen eine doppelte Bedeutung, sie sind Gedanke (subjektive Idee) und auch der Gegenstand, der gedacht wird (objektive Idee). Im ersten Fall handelt es sich um die Quelle der Wahrheit, im zweiten um die Gegenstandswelt der Wahrheit. Diese platonischen Ideen sind für den antiken Menschen etwas Wirkliches und leuchten in der präexistenten Schau des reinen Denkens auf. Die objektive Idee ist etwas anderes als der Geist und seine Funktionen. Dennoch besitzt die Idee in der Sinnlichkeit innerhalb von Raum und Zeit keine Wirklichkeit. Vielmehr sind Ideen nicht etwa aktuelles Denken oder Wissen, denn ihre Realität ist eine ideale. Dies erfahren wir einigermaßen gut in mathematischen Kontexten: 2 mal 2 ist 4 oder auch im Satz der Winkelsumme des Dreiecks u. a. Diese können von keiner Macht der Welt vernichtet werden, denn sie stehen überhaupt nicht in der Zeit; auch ist es sinnlos zu fragen, wann sie zu gelten begonnen hätten und, sollte es keine Welt mehr geben, ob sie dann ihre Gültigkeit verlören. Nicht einmal ein Gott könnte ihre Geltung außer Kraft setzen.

Die Ideen sind für Platon etwas „Endloses“, zeitlich nicht einzugrenzendes, sie bilden den Strukturplan der Welt, sind aber von dieser nicht abhängig, sie sind das Sein des Seienden, also Grund von allem. Die materielle Welt, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen ist etwas, was sich irrt und fehlerhaft ist, dennoch wird sie durch die Ideen gelenkt, gesteuert oder, wie auch gesagt werden kann, dirigiert. Nach Platon lebt die Welt nur von der "Gnade" der Ideen. Diese ideelle Welt (der Ideen) ist also für Platon die eigentliche Wirklichkeit und auch die der Wahrheit und Wissenschaft. Würde man einen Kreis an eine Tafel malen, wäre dies nicht der eigentliche Kreis, sondern der ideale wäre der wirkliche Kreis. Gegen das Kreisgesetz würde der erste verstoßen, weil er nie exakt rund ist und seine Linien ausgedehnt sind. So verhält es sich auch mit den anderen Ideen. Auch der Mensch fällt unter diese Prämisse, denn ein Mensch, der sich mit dem Ideal des Menschen deckt, ist wohl noch nie geboren worden. Das bisher Gesagte zum Verhältnis von Sein und Seiendem fasst Platon wie folgt zusammen: „Ehe wir also anfingen zu sehen oder zu hören oder sie anderen Dinge zu gebrauchen, mußten wir schon irgendwoher die Erkenntnis bekommen haben des eigentlich Gleichen, was es ist, wenn wir doch das Gleiche in den Wahrnehmungen auf jenes beziehen sollten, daß dergleichen alles zwar strebt zu sein wie jenes, aber doch immer schlechter ist.“ [13] Für Platons denken ist also das, was wir als Wirklichkeit empfinden, also die physische Welt eine abgeschwächt wahre Welt, in der alles lediglich nach der Idee strebt.

Vermutlich denkt man jetzt, Platon teile die Welt in zwei Teile (Ideen- u. Sinnenwelt). Dem ist jedoch nicht so, denn die Sinnenwelt ist auf die Ideenwelt angewiesen, weil sie ihren Seinsmodus von der Ideenwelt verliehen bekommt. Wie kann man sich dies vorstellen? Etwa im Sinne einer Sanduhr, in der immer etwas Sein "nachrieselt"? So in etwa, denn jedes Ding in der Welt erhält seine Existenzmöglichkeit durch die Idee. Platon selbst hat den Kontext von Wahrheit und Wirklichkeit, also der Seinsmodi in seinem berühmten Höhlengleichnis[14] erläutert: Wir Menschen sind wie Gefangene in einer Höhle und seit unserer Geburt an eine Bank gefesselt, von der aus wir uns nicht umdrehen können, sondern nur die gegenüber dem Eingang liegende Wand sehen können. Hinter ihnen, quer durch die Höhle verläuft eine Mauer, die so hoch ist wie ein Mensch und wohinter ein Feuer brennt. Zwischen der Mauer und dem Feuer können Menschen hindurch gehen, Dinge, die sie vorbeitragen, wie Statuen, Geräte usw., werden vom Feuer als Schatten auf die Höhlenwand projiziert. Darüber hinaus dringt das Echo der Töne von den Leuten an die Ohren der Gefangenen. Die Gefangenen nehmen nichts anderes wahr als Schatten und Echo und so werden sie die Schatten und das Echo für die Wirklichkeit halten. Wären sie befreit, so hätten sie die Chance die wirklichen Töne und die realen Gegenstände wahrzunehmen und wären sicherlich über diese neue Wirklichkeit erstaunt. Und wenn sie gar die Höhle verlassen könnten und im Sonnenlicht die wahren Dinge wie lebende Menschen, Tiere und andere reale Gegenstände schauen könnten, wären sie geblendet von dieser wiederum anders gearteten Wirklichkeit, ihnen würde klar, dass sie nur Abbilder vorgegaukelt bekamen und kämen sie in die Höhle zurück und würden den anderen davon erzählen, so würden sie wahrscheinlich von den zurück Gebliebenen verspottet oder wenn sie sie befreien würden und an das Sonnenlicht in die Wahrheit führen würden, vielleicht sogar umgebracht. Trotz dieses Risikos muss der Philosoph die Menschen aus der Welt des Scheins und der Abbilder in das wahre Sein herausführen, denn dies ist seine Aufgabe. Selbstverständlich ist dies alles auch nicht die Welt des wahren Seins, sondern auch wieder nur Abbild. Die wahrhaftige, wahre Welt ist, wie bereits gesagt, die Welt der Ideen. Das erste Abbild ist der Schatten in der Höhle, was die raumzeitliche Welt darstellt. Sie ist damit ein Abbild vom Abbild der im Sonnenlicht erkenntlichen Welt und damit nur die Welt der Nachahmung.

Mit diesem Gleichnis wird nicht nur gezeigt, wie verschiedene Schichten des Seins es im Sinne richtiger Modalitäten gibt, sondern auch, dass diese Schichten aufeinander aufbauen, wobei der Begründungsgang von oben also der Idee des Guten ausgeht und das Höhere das stärkere Sein besitzt: die Schattenwelt ist die unterste, worauf die die reale Welt des Seins ruht und schließlich geht der Weg zum absoluten, d. h. zu der Idee des Guten, die von keiner anderen Idee mehr abhängt und sich selbst genug ist, wodurch sie nicht mehr Sein in üblichem Sinn ist. Diese Idee des Guten wurde später oft z. B. von Augustinus auch als Gottheit bezeichnet. Von dieser Idee hängt letzten Endes alles ab, weitere nachgelagerte Ideen verleihen den Dingen, die wir wahrnehmen Sein, Leben und Erkennbarkeit. Natürlich stellt sich auch die Frage, ob es Ideen gibt, die nichts „Gutes“ bedingen? Im Parmenides hält der platonische Sokrates es für „verwunderlich“, wenn es Ideen für Haare, Kot und Schmutz Ideen geben sollte.[15]

Umgekehrt braucht die Ideenwelt aber nicht unbedingt die Sinnenwelt, was ein Beispiel verdeutlichen soll: Die (Idee der) Gerechtigkeit existiert an sich, aber eben auch, wenn sich kein Mensch innerhalb der Sinnenwelt gerecht verhielte. Dem Menschen kommt also zu, auch geistig an einer überräumlichen und zeitlosen Welt teilzuhaben, ohne unsere sinnliche Welt verlieren zu müssen oder ihr gar entfliehen zu wollen oder zu müssen. Dadurch wird auch das Bewusstsein gestärkt, unsere Wirklichkeit als etwas Schwankendes und Unsicheres zu relativieren. Andererseits kann man zu den Ideen aufschauen, wenn man Halt im Denken und Handeln gewinnen möchte. Auch das Erkennen von mehr oder weniger Seiendem erklärt sich damit, Dinge können mehr oder weniger seiend sein, sie können sich verändern, verbessern, verschlechtern, vergrößern, verkleinern usw. Dies kann auch für politische, gesellschaftliche oder ganz existenzielle Vorgänge gelten. Gleichzeitig ermöglicht uns dieses Denken eine gewisse Einsicht in das Gute und Wahre.

 



[1] Die entsprechende Definition dazu stammt von Aristoteles: „…zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr.“ (Metaphysik IV, 7; 1011 b 27).

[2] Ontologie ist die Lehre vom Sein, als Urgrund von allem Wahren und Wirklichen.

[3] Zitiert wird nach der Stephanus-Paginierung. Platon: Sämtliche Werke in vier Bänden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994.

[4] Vgl. Politeia 523f; Theaitet 185f.

[5] Phaidon 79d.

[6] Vgl. ebd. 73a.

[7] Ebd. 75b.

[8] Die irrtümlich so bezeichnete „Platonische Liebe“ stammt aus diesem Missverständnis der Metaphysik Platons.

[9] Vgl. Phaidon 73c-e

[10] Vgl. Timaios 29a ff.

[11] Vgl. Phaidon 79d.

[12] Vgl. ebd. 78d.

[13] Ebd. 75b.

[14] Vgl. Politeia 514 ff.

[15] Vgl. Parmenides 130c.

 

Literatur:

 

Aristoteles: Philosophie Schriften in sechs Bänden. Hamburg: Meiner 1995.

Platon: Sämtliche Werke in vier Bänden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994.