Was heißt Anthropologie?

Der Begriff setzt sich zusammen aus gr. ‚ánthrōpos“ und logos, bzw. logie, was zusammengesetzt Menschenkunde oder Wissenschaft vom Menschen bedeutet. Anthropologische Fragen durchziehen fast alle Wissenschaften, wie den Geistes- und Sozialwissenschaften, genauso wie in Kultur- und Naturwissenschaften. Die Anthropologie beschäftigt sich wesentlich mit dem Lebewesen des aufrechten Gangs. Dieses Wissen umfasst universelle und partikulare, auf die historische und kulturelle Vielfältigkeit bezogene Teile und ist eng mit dem Entwicklungsstand von Gesellschaft, Wissenschaft, Technik, Philosophie und Theologie verbunden.[1] Entscheidend ist auch, dass im Zusammenhang mit der Anthropologie der Mensch Aussagen über sich selbst macht, sie ist damit ein selbstreflexives Verfahren. Das Subjekt, das erforscht und das Objekt der Forschung sind somit identisch. Der Mensch tritt in ein Selbstverhältnis, was auch sein Verhältnis zur Welt betrifft.

Die Existenz des Menschen hat die der Welt zur Voraussetzung, nicht jedoch umgekehrt. Von Geburt an entwickelt der Mensch ein ganz eigenes Verhältnis zur Welt, was treffend formuliert bedeutet, der Mensch kommt ‚zur Welt‘. Der Säugling löst sich vom Blutkreislauf der Mutter und wird ein eigenständiges Lebewesen. Mit Vollendung der Geburt kommt ihm nach unserer Rechtsauffassung auch die Rechtsfähigkeit (BGB §1) zu. Das Verhältnis des Menschen zur Welt hat jeweils einen individuellen Charakter, der seine Situation ausmacht. Dies gilt bereits für den Säugling, wenn bestimmte Merkmale erfasst werden: Ort und Zeit seiner Geburt, Gewicht, Körpergröße und Gesundheitszustand und sie bleiben unveränderliche Daten seiner Biografie, auch wenn sich welche im Lauf der Zeit ändern. Allerdings verändern sich der Mensch und die Situation im weiteren Fortgang des Lebens. Jede Situation kann zu einer neuen Herausforderung werden, der er sich stellen muss.[2]

Bereits in der Antike entwickelt sich eine Lehre vom Menschen: in der griechisch/römischen Mythologie und den biblischen Texten. Der Mensch ist danach ein Geschöpf der Götter oder des Gottes. Schicksal als Bestimmung und Paradieserzählung zeigen die Situation des Leidens, was dem Menschen widerfährt. Durch Ungehorsam und Hybris (Überheblichkeit gegenüber den Göttern/Gott) wird der Mensch in ein hartes Arbeitsleben verwiesen. Einen Trost hat die Bibel dennoch: Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die dem Menschen das Leid verkürzen oder sogar beenden kann. Die Heilige Schrift betrachtet den Menschen also in zwei unterschiedlichen Modellen. Des Weiteren ergeben sich dualistische und monistische Konzepte. In der griechischen Antike ‚psyche‘ und ‚soma‘ und später bei René Descartes ‚res cogitans‘ (Geist, Verstand) und ‚res extensa‘ (Körper, Ausgedehntes). Der Mensch gehört beiden Bereichen an, woraus sich das Problem der Vermittlung ergibt. Der Monismus versucht dies zu vermeiden und geht nur von einem (gemeinsamen) Seinsbereich (Einheit der Natur, wovon der Mensch ein Teil ist) aus. [3]

Der Begriff Anthropologie stammt nicht aus der Antike, sondern ist eine Neuschöpfung, mit der die Wende zum Denken über den Menschen bezeichnet wird. Sie ereignet sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Bei Galeazzo Capelle findet sich dieser Buchtitel zuerst 1533. In dieser Zeit findet eine zunehmende Distanzierung von theologischem Gedankengut statt und das Individuum rückt mehr in den Vordergrund. In den Essais von Michel Montaigne rückt das Subjekt in den Vordergrund der anthropologischen Reflexion.

In der Epoche der Aufklärung entwickelt sich die bürgerliche Gesellschaft und die Aufklärungsphilosophie beflügelt das Wissen um den Menschen. Immanuel Kant unterscheidet in seiner Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798 zwischen einer physiologischen und einer pragmatischen Anthropologie. Die physiologische Komponente bezeichnet das von der Natur gegebene Unveränderliche des Menschen, während die pragmatische Anthropologie die Zivilisierung und die Kultivierung der Menschheit fördern soll. Gleichzeitig hat der Mensch darin die Aufgabe, sich und seine Zukunft zu gestalten.

Wichtig für die gegenwärtige Diskussion sind dann Johann G. Herder und Wilhelm von Humboldt, die im Gegensatz zu Kant den historischen und kulturellen Charakter der Anthropologie hervorheben. Herder stellt dabei in seinen Überlegungen vor allem die Unterschiede von Mensch und Tier heraus. Humboldt fordert die Untersuchung der historisch-kulturellen Ausprägungen der verschiedenen Gesellschaften mithilfe einer vergleichenden Anthropologie. „Dabei will sie die Differenzen zwischen den Gesellschaften, Kulturen und Individuen erforschen und zugleich in der Mannigfaltigkeit der Unterschiede und Kontingenzen ‚das Ideal der Menschheit‘ begreifen.“ Mit der Erforschung verschiedener Zeiträume und Kulturen bildet sich ein anthropologisches Wissen, welches zu einem intensiveren Verständnis gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung beiträgt. [4] Humboldt beschäftigt sich darüber hinaus auch mit der Förderung von Bildungsprozessen, die das Ziel verfolgen, den Menschen zu verbessern.

Gegenwärtig versucht Anthropologie, die Geschichtlichkeit und Kulturalität ihrer Begriffe, Perspektiven und Methoden auf die Geschichtlichkeit und Kulturalität ihrer Gegenstände zu beziehen. Im Sinne einer Historischen Anthropologie verarbeitet sie Ergebnisse der Humanwissenschaften und der geschichts- und kulturphilosophisch fundierten Anthropologie-Kritik und bereitet den Weg zu weiteren neuartigen Fragestellungen. Das Zentrum ihrer Anstrengungen bildet eine Unruhe im Denken, die nicht gestillt werden kann. Diese Forschungen sind weder auf bestimmte kulturelle Räume noch auf einzelne Epochen beschränkt. In der Reflexion ihrer eigenen Geschichtlichkeit und Kulturalität können sie den Eurozentrismus der Humanwissenschaften hinter sich lassen und sich den offenen Problemen der Gegenwart wie auch der Zukunft zuwenden.[5] Dabei kann sie sich ihre Skepsis gegenüber in sich geschlossenen anthropologischen Gesamtdeutungen wie sie z. B. in den Biowissenschaften manchmal vorgetragen werden, bewahren. Historische Anthropologie ist keine feste Einzelfachwissenschaft, sondern bildet sich durch den Bezug auf andere Wissenschaften und auf die Philosophie und Theologie. Je nach Forschungsfeld können diese Bezugnahmen sehr unterschiedlich sein. So kann der ganze Bereich der menschlichen Kultur zum Gegenstand der Historischen Anthropologie werden. Dabei geht sie davon aus, dass Kulturen keine in sich geschlossen Systeme sind, sondern dass sie dynamisch, füreinander durchlässig und für die Zukunft offen sind.[6]

Wichtige Felder der anthropologischen Forschung im Bereich der philosophischen Disziplin sind die Geschichtlichkeit des Menschen, das „Rätsel des Humanen“, Konsequenzen der Evolutionstheorie, d. h. die Verwandtschaft allen Lebens miteinander, der sich aus dem Mensch-Tier-Vergleich ergebende besondere Charakter, das Verhältnis von Glaube und Wissen, die Frage nach Individuum und der Person und die zunehmende Digitalisierung und die daraus folgenden Fragen der Freiheit und der Persönlichkeitsrechte sowie die Technisierung (Transhumanismus) und Optimierung (Neuro-Enhancement) des Menschen selbst. Diese Ausrichtung kann z. T. auch als Mittelpunkt der Philosophischen Anthropologie gesehen werden. Nach Max Scheler ermöglicht der menschliche Charakter Gegenstandsbewusstsein und Weltoffenheit. Helmuth Plessner hält die Exzentrizität des Menschen für das Besondere. Sie befähigt den Menschen dazu, seinen Körper nicht nur im Sein, sondern auch im Haben zu erfahren. Fühlt und empfindet der Mensch seine Hand, so spürt er sie einerseits als Körperteil andererseits erfährt er sie als Organ, welches er einsetzen, über das er verfügen und dessen Gebrauch er steuern kann. Arnold Gehlen greift Herders Unterscheidung von Mensch und Tier auf und weist insbesondere auf das Mängelwesen Menschen hin. Gegenüber dem Tier hat der Mensch Nachteile (z. B. geringere Kraft, Schnelligkeit, Sinne usw.). Der Mensch muss die einzelnen Mängel ausgleichen, was mithilfe individuellen und kollektiven Handelns geschieht – daraus bildeten sich die Sprache, Kultur und Institutionen.

Anthropologische Fragestellungen werden auch in der historischen Kulturforschung, historischen Familienforschung, Frauen- und Geschlechterforschung und des Weiteren in der Mentalitäts-, Alltags- und Mikrogeschichte behandelt.[7]

Ein wichtiges Gebiet der Anthropologie[8] ist der Körper. Bezüge gibt es dabei auf den menschlichen und tierischen Körper bzw. ihrer Unterscheidung, Geschlecht, Generationenverhältnis, Ernährung, Kleidung, Mensch und Umwelt, Körper in verschiedenen Kulturen und in der Geschichte. Auch Nachahmung, Mimik, Gestik und Ausdruckskraft und ihre Lernprozesse mit denen Menschen sich ihre Mit- und Umwelt erschließen, werden beachtet. Ferner die Bildung von Gemeinschaften und ihre Rituale; der performative Charakter von Kultur gilt es zu begreifen, besonders im Sinne von Inszenierung und Aufführung des Körpers. Auch Sprache und Imaginationsfähigkeit spielen in den jeweiligen Untersuchungen eine Rolle. Tod und Vergänglichkeit sowie Auferstehungs- und Unsterblichkeitskonzepte finden Beachtung, wobei dies nicht zwingend im religiösen Kontext sein muss, da die Technik es irgendwann ermöglichen könnte, das Leben exorbitant zu erweitern. Mimetische Prozesse wirken direkt auf die Kultur und verändern sie. Kreativität und ihr entsprechend Nachahmung wirken ästhetisch auf uns (Theater, Kino, Fernsehen seien hier exemplarisch genannt), was unsere Wahrnehmungsfähigkeit fordert. Es entstehen somit „Fenster“, die Einblick in die Strukturen von Gesellschaft(en) und Kultur erlauben.[9]

Durch die Sprache werden die vorhergenannten Prozesse erst angetrieben. Die Sprachfähigkeit ist dem Menschen angeboren, genauso wie die Möglichkeit Sätze zu bilden. Sprache erlernen läuft aber auch in historischen und kulturellen Bahnen, worin mimetische, rituelle und performative Aspekte ein wichtiges Moment darstellen.

Imagination ist für die Ausbildung von Kultur und Gesellschaft unerlässlich. Sie erzeugt Bilder, die im Körper entstehen. „Wer diesen in seinen historischen und kulturellen Formen begreifen will, erfährt viel über ihn in den kollektiven und individuellen Bildern der Menschen.“ [10] Damit die imaginären Bilder sichtbar werden, benötigen sie ein Medium. Unterschiedliche Formen der Materialisierung und Konkretisierung ermöglichen dies.

Imagination befindet sich auch im Bereich des Sterbens, des Todes und der Gestaltung von Grabmälern, Grabbeigaben und Denkmalen. Was ist der eigene und der Tod des anderen? Im Bezug zum Körper ist dies klar, denn er lebt im Zwischenraum von Geburt und Tod.

 



[1] Vgl. Wulf, Christoph: Anthropologie. Geschichte-Kultur-Philosophie. Reinbek bei Hamburg 2004. S. 7.

[2] Vgl. Pleger, Wolfgang. Handbuch der Anthropologie. Die wichtigsten Konzepte von Homer bis Sartre. Darmstadt 2013. S. 11.

[3] Vgl. ebd. S. 13.

[4] Vgl. Wulf, Christoph: Anthropologie. S. 8.

[5] Vgl. ebd. S. 9.

[6] Vgl. ebd.

[7] Vgl. ebd. S.12.

[8]Dazu gehören die Philosophische Anthropologie, Evolutionsforschung, Anthropologie der Geschichtswissenschaften, Kulturanthropologie und die Historische Anthropologie.

[9] Vgl. Wulf, Christoph: Anthropologie. S. 15.

[10] Ebd. S. 16.

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